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Klingsors letzter Sommer

Klingsors letzter Sommer

Titel: Klingsors letzter Sommer
Autoren: Hermann Hesse
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der Kinderwelt gelebt
    hatten, als der Krieg sie wegholte, und
    welche jetzt diese sogenannte Welt und
    Wirklichkeit, in die sie »heimkehrten«,
    vollkommen fremd und unbegreiflich fan-
    den. Und von uns Älteren waren viele der
    Meinung, es seien ihnen gerade die wich-
    tigsten, die unersetzlichsten Jahre geraubt
    worden, und es sei jetzt zu spät, um noch-
    mals anzufangen und mit den Jüngeren zu
    konkurrieren, welche ja auch nicht zu be-
    neiden waren, aber immerhin den Vorzug
    hatten, schon in einer harten und nüchter-
    nen, einer unsentimentalen und ideallosen
    Welt zum Leben erwacht zu sein, während
    wir Alten aus Zeitaltern stammten und
    Weltbilder kannten, die für uns die höch-
    sten Werte gewesen und jetzt zu belächel-
    37
    ten Kuriositäten von vorgestern geworden
    waren. Die Zeitalter waren erstaunlich
    kurz geworden; die Jüngeren rechneten
    schon nicht mehr nach Menschenaltern,
    Generationen oder wenigstens nach Lu-
    stren, sondern nach Jahrgängen, und die
    von 903 glaubten von den 904ern durch
    eine große Kluft getrennt zu sein. Es war
    alles fraglich geworden, und das hatte et-
    was Beunruhigendes und oft sehr Beängsti-
    gendes. Aber in einer so fragwürdigen
    Welt schien manchmal, in guten Stunden,
    auch alles möglich zu sein, und das öffnete
    weite Horizonte. Mir zum Beispiel, dem
    vom Krieg degradierten und vergewaltig-
    ten, jetzt wieder ins Privatleben entlasse-
    nen Dichter, wollten zuweilen die unwahr-
    scheinlichsten Dinge möglich scheinen,
    etwa eine Rückkehr der Welt zu Vernunft
    und Brüderlichkeit, ein Wiederentdecken
    der Seele, ein Wiedergeltenlassen des Schö-
    nen, ein Wiederangerufenwerden von den
    Göttern, an die wir bis zum Zusammen-
    bruch unsrer einstigen Welt geglaubt hat-
    ten. Jedenfalls sah ich für mich keinen an-
    deren Weg als den zur Dichtung zurück,
    einerlei ob die Welt der Dichtung noch
    38
    bedürfe oder nicht. Wenn ich mich von den
    Erschütterungen und Verlusten der
    Kriegsjahre, die mein Leben nahezu voll-
    kommen zertrümmert hatten, noch einmal
    erheben und meinem Dasein einen Sinn
    geben konnte, so war es nur durch eine
    radikale Einkehr und Umkehr möglich,
    durch einen Abschied von allem Bisheri-
    gen und einen Versuch, mich dem Engel zu
    stellen.
    Es hatte bis zum Frühling 99 gedauert,
    bis die Kriegsgefangenenfürsorge, in deren
    Dienst ich stand, mich entließ; die Freiheit
    fand mich allein in einem leeren und ver-
    wahrlosten Hause, in dem es seit einem
    Jahr sehr an Licht und Heizung gemangelt
    hatte. Es war von meiner frühern Existenz
    sehr wenig übriggeblieben. So machte ich
    einen Strich unter sie, packte meine Bü-
    cher, meine Kleider und meinen Schreib-
    tisch ein, schloß das verödete Haus und
    suchte einen Ort, wo ich allein und in voll-
    kommener Stille von vorn beginnen
    könnte. Der Ort, den ich fand, und an dem
    ich heute, viele Jahre später, noch lebe, hieß
    Montagnola und war ein Dorf im Tessin.
    Um diesen Sommer zu einem außerordent-
    39
    lichen und einmaligen Erlebnis für mich zu
    steigern, kamen drei Umstände zusammen:
    das Datum 99, die Rückkehr aus dem
    Krieg ins Leben, aus dem Joch in die Frei-
    heit, war das wichtigste; aber es kam hinzu
    Atmosphäre, Klima und Sprache des Sü-
    dens, und als Gnade vom Himmel kam
    hinzu ein Sommer, wie ich nur sehr wenige
    erlebt habe, von einer Kraft und Glut, ei-
    ner Lockung und Strahlung, die mich mit-
    nahm und durchdrang wie starker Wein.
    Das war Klingsors Sommer. Die glühen-
    den Tage wanderte ich durch die Dörfer
    und Kastanienwälder, saß auf dem Klapp-
    stühlchen und versuchte, mit Wasserfarben
    etwas von dem flutenden Zauber aufzube-
    wahren; die warmen Nächte saß ich bis zu
    später Stunde bei offenen Türen und Fen-
    stern in Klingsors Schlößchen und ver-
    suchte, etwas erfahrener und besonnener,
    als ich es mit dem Pinsel konnte, mit Wor-
    ten das Lied dieses unerhörten Sommers zu
    singen. So entstand die Erzählung vom
    Maler Klingsor.
    (938)

    Abbildungsverzeichnis
    Häuser am Berg: Seite 7, gemalt am 22. 9. 922
    Interieur mit Büchern: Seite 5, gemalt 92
    Dorf im Frühling: Seite 3, gemalt um 92
    Dächer von Montagnola: Seite 4, gemalt am 24. 6. 928
    Blühende Bäume: Seite 47, gemalt am 7. 4. 925
    Blick auf den Luganer See: Seite 65, gemalt am 9. 9. 922
    Bäume im Spätherbst: Seite 79, gemalt am 8. . 924
    Sorengo: Seite 07, gemalt am 26. 6. 924
    Grotto im
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