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Klingsors letzter Sommer

Klingsors letzter Sommer

Titel: Klingsors letzter Sommer
Autoren: Hermann Hesse
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Sonne
    und Mond rennen gehetzt wie Amokläufer
    über den Himmel, die Tage jagen sich, die
    Zeit läuft einem davon, wie durch ein Loch
    im Sack. Hoffentlich wird auch das Ende
    dann ein plötzliches sein und diese betrun-
    kene Welt untergehen, statt wieder in ein
    bürgerliches Tempo zu fallen.
    Die Tage über bin ich zu sehr beschäftigt,
    als daß ich etwas denken könnte (wie ko-
    misch das übrigens klingt, wenn man einen
    0
    solchen sogenannten »Satz« einmal laut vor
    sich hinsagt: »als daß ich etwas denken
    könnte«)! Aber am Abend fehlst Du mir
    oft. Ich sitze dann meistens irgendwo im
    Wald in einem der vielen Keller und trinke
    den beliebten Rotwein, der zwar meistens
    nicht gut ist, aber doch auch das Leben
    tragen hilft und den Schlaf befördert. Ei-
    nige Male bin ich sogar am Tisch im
    Grotto eingeschlafen und habe unter dem
    Grinsen der Eingeborenen bewiesen, daß
    es mit meiner Neurasthenie doch nicht so
    schlimm stehen kann. Manchmal sind
    Freunde und Mädchen dabei, und man übt
    seine Finger am Plastizin weiblicher Glie-
    der und spricht über Hüte und Absätze und
    die Kunst. Manchmal glückt es, daß eine
    Temperatur erreicht wird, dann schreien
    und lachen wir die ganze Nacht, und die
    Leute freuen sich, daß Klingsor so ein lu-
    stiger Bruder ist. Es gibt hier eine sehr
    hübsche Frau, die jedesmal, wenn ich sie
    sehe, heftig nach Dir fragt.
    Die Kunst, die wir beide treiben, hängt,
    wie ein Professor sagen würde, noch im-
    mer eng am Gegenstand (wäre fein als Bil-
    derrätsel darzustellen). Wir malen immer
    
    noch, wenn auch mit etwas freier Hand-
    schrift und für den Bourgeois aufregend
    genug, die Dinge der »Wirklichkeit«: Men-
    schen, Bäume, Jahrmärkte, Eisenbahnen,
    Landschaften. Darin fügen wir uns noch
    einer Konvention. »Wirklich« nennt ja der
    Bürger die Dinge, die von allen oder doch
    vielen ähnlich wahrgenommen und be-
    schrieben werden. Ich habe im Sinn, sobald
    dieser Sommer herum ist, eine Zeitlang nur
    noch Phantasien zu malen, namentlich
    Träume. Es wird darin zum Teil auch nach
    Deinem Sinn zugehen, nämlich wahnsin-
    nig lustig und überraschend, etwa so wie in
    den Geschichten Collofinos des Hasenjä-
    gers vom Kölner Dom. Wenn ich auch
    fühle, daß der Boden unter mir etwas dünn
    geworden ist, und wenn ich auch im gan-
    zen mich wenig nach weitern Jahren und
    Taten sehne, ich möchte doch immerhin
    noch einige heftige Raketen dieser Welt in
    den Rachen jagen. Ein Bilderkäufer schrieb
    mir kürzlich, er sehe mit Bewunderung,
    wie ich in meinen neuesten Arbeiten eine
    zweite Jugend erlebe. Etwas daran ist ja
    richtig. Zu malen habe ich eigentlich erst
    dies Jahr recht angefangen, scheint mir.
    2
    Aber es ist weniger ein Frühling, was ich da
    erlebe, als eine Explosion. Erstaunlich, wie
    viel Dynamit in mir noch steckt; aber Dy-
    namit läßt sich schlecht im Sparherd bren-
    nen.
    Lieber Louis, schon oft habe ich mich im
    stillen darüber gefreut, daß wir zwei alten
    Wüstlinge im Grunde so rührend scham-
    haft sind und einander lieber die Gläser an
    den Kopf schmeißen, als etwas von unsern
    Gefühlen gegeneinander merken zu lassen.
    Möge es so bleiben, alter Igel!
    Wir haben dieser Tage in jenem Grotto bei
    Barengo ein Fest mit Brot und Wein gefei-
    ert, herrlich klang unser Gesang im hohen
    Wald in der Mitternacht, die alten römi-
    schen Lieder. Man braucht so wenig zum
    Glück, wenn man älter wird und an den
    Füßen zu frieren beginnt: acht bis zehn
    Stunden Arbeit im Tag, einen Liter Pie-
    monteser, ein halbes Pfund Brot, eine Vir-
    ginia, ein paar Freundinnen, und allerdings
    Wärme und gutes Wetter. Die haben wir,
    die Sonne funktioniert prachtvoll, mein
    Schädel ist verbrannt wie der einer Mumie.
    An manchen Tagen habe ich das Gefühl,
    mein Leben und Arbeiten beginne eben
    3
    erst, manchmal aber kommt es mir vor, ich
    habe achtzig Jahre schwer gearbeitet und
    habe bald einen Anspruch auf Ruhe und
    Feierabend. Jeder kommt einmal an ein
    Ende, mein Louis, auch ich, auch Du.
    Weiß Gott, was ich Dir da schreibe, man
    sieht, daß ich etwas unwohl bin. Es sind
    wohl Hypochondrien, ich habe viel Au-
    genschmerzen, und manchmal verfolgt
    mich die Erinnerung an eine Abhandlung
    über Netzhautablösung, die ich vor Jahren
    gelesen haben.
    Wenn ich durch meine Balkontür hinunter-
    sehe, die Du kennst, dann wird mir klar,
    daß wir noch eine gute Weile fleißig sein
    müssen. Die Welt ist unsäglich schön
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