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Klassentreffen

Titel: Klassentreffen
Autoren: S Vlugt
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schien es nicht mehr zu geben. Da waren nur das Rauschen des Windes in den Baumkronen, der warme Sand und unsere Gedanken und Gefühle.
    Eine von uns musste die Initiative ergreifen und die Stille durchbrechen. Wir konnten uns nicht ewig so anstarren. Ich wollte gerade etwas sagen, als ich Isabels Stimme hörte, leise und schleppend.
    »Hast du noch immer nicht genug?«
    Verständnislos sah ich sie an. »Wovon?«
    »Davon, mir nachzulaufen und mich zu retten.«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Ich hab dich in den Wald gehen sehen«, sagte ich schließlich.
    Sie machte eine hilflose Handbewegung, schloss die Augen und ließ den Kopf an den Baum sinken. Ganz eindeutig hatte ihr der Anfall alle Kraft geraubt.
    »Kann ich dir helfen?« Ich machte ein paar Schritte auf sie zu, trat auf die kleine sandige Lichtung, die uns trennte.
    Isabel schlug die Augen auf und schüttelte den Kopf. »Du änderst dich nie, was?«, sagte sie erschöpft.

    Unschlüssig stand ich da, hatte keine Ahnung, was sie meinte, und ließ die Arme hängen.
    »Guck dich doch mal an!«, sagte Isabel. »Mit dir kann man wirklich alles machen, Sabine!«
    »Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?«, flehte ich. »Wir brauchen doch nicht mehr Freundinnen zu sein, so wie früher, aber du könntest mich zumindest in Ruhe lassen.«
    Isabel reagierte nicht. Erinnerte sie das Wort »früher« an unsere Freundschaft, an die Zeit, als sie bei uns übernachtete und wir gemeinsam Ferien machten?
    »Wie geht’s deinem Vater?«, fragte sie.
    Ich sah sie misstrauisch an. »Als würde dich das interessieren!«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Dein Vater ist schon in Ordnung. Dein Bruder übrigens auch.«
    Etwas an der Art, wie sie das sagte, ließ mich aufhorchen. Lauernd sah ich sie an.
    »Ich hab mit Olaf Schluss gemacht«, sagte sie. »Und mit Bart auch. Ich glaube, Robin steht auf mich.«
    Ihr Ton war jetzt nicht mehr ärgerlich, sondern verächtlich. Tief in meinem Innern regte sich etwas, das ich nicht mehr zurückhalten konnte, etwas, das wie eine Luftblase in kochendem Wasser nach oben drängte.
    Ich zog die Augen zu Schlitzen, und die Wut kam über mich wie ein Raubtier mit ausgefahrenen Klauen. Es tat weh. Ungeheuer weh, weil ich wusste, dass Isabel Recht hatte. Robin war loyal und hatte mich gern, aber er war nun mal ein Junge. Ich hatte gesehen, wie er Isabel anschaute, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Sie wollte und würde ihn kriegen.
    Kälte griff mir ans Herz und breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Isabel musste lachen, als sie mein Gesicht sah. Sie wollte aufstehen, aber ihre Muskeln ließen sie im
Stich; sie sackte zurück. Ich kam ihr nicht zu Hilfe, wie ich es vor ein paar Minuten noch vorgehabt hatte.
    »Das wird eine ganz schöne Umstellung für dich, wenn er demnächst nach der Schule auf mich statt auf dich wartet«, sagte sie boshaft.
    Ich stürzte mich auf sie und war so schnell bei ihr, dass sie keine Chance hatte, mich abzuwehren.
    Mit rotem Nebel vor den Augen packte ich sie mit beiden Händen am Hals und drückte zu. In ihrem Blick lag keine Angst, nur Verwunderung, aber das änderte sich bald.
    Immer fester drückte ich zu. Es kostete kaum Kraft. Sie versuchte, sich zu wehren, aber ich war stärker. Sie riss die Augen weit auf und guckte so flehend wie ich die letzten Jahre.
    Wäre ihr Anfall nicht so schwer und sie nicht so erschöpft gewesen, hätte sie Widerstand leisten können. So aber war es vorbei, bevor ich überhaupt merkte, was ich da tat.
    Nach einer Weile zuckte ihr Körper nicht mehr, die Augen starrten mich ganz seltsam an.
    Der rote Nebel verzog sich. Entsetzt ließ ich Isabels Hals los und blickte in ihr totes Gesicht, auf meine Hände, die so etwas hatten tun können. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich da mit erhobenen Händen gesessen habe. Irgendwann wurde mir klar, was ich angerichtet hatte, und ich begann zu zittern. Das konnte einfach nicht wahr sein. Das hatte doch nicht ich getan! Das war eine andere Sabine gewesen. Eine, die ich überhaupt nicht kannte, die an meine Stelle getreten war und Isabel den Hals zugedrückt hatte. Aber doch nicht ich. Das war ich nicht.
    Diese andere Person hatte mich noch nicht verlassen und übernahm die Führung. Ich sah, wie sie die Umgebung absuchte und mit einem Stück Hartplastik wiederkam, einem Hinweisschild, das irgendwo im Gebüsch gelegen hatte.

    Sie benutzte es als Schaufel und hob damit eine Grube zwischen den Brombeersträuchern aus. Fassungslos
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