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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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Wie eine Stimme aus
einer anderen Welt
Julia Albrecht
    Wie eine Stimme aus einer anderen Welt drangen ihre Worte zu mir. Auch wenn sie nicht an mich gerichtet waren. Doch ich hörte es so. Es waren Sätze von Corinna Ponto über den Mord an ihrem Vater. Sie waren in dem Buch von Anne Siemens »Für die RAF war er das System, für mich der Vater« abgedruckt. Corinna Ponto macht dort, auf eine sehr vorsichtige Art zwar, aber dennoch unüberhörbar, meinen Eltern den Vorwurf, dass sie ihre Eltern nicht über die Entwicklung meiner Schwester Susanne vor deren Besuch bei Pontos am 30. Juli 1977 aufgeklärt hatten.
    Corinnas Worte über den Mord an ihrem Vater trafen mich in einem Moment, in dem ich sowieso hauptsächlich mit diesem Thema befasst war. Ich hatte beschlossen, einen Dokumentarfilm über die Folgen der Tat meiner Schwester und deren Bedeutung für uns als ihre Familie zu drehen, und war seit Monaten damit beschäftigt, gemeinsam mit meiner Mutter alte Briefe, Dokumente und Fotos zu sichten und zum hundertsten Mal über die uns noch immer quälende Frage zu sprechen: Wie hatte das geschehen können? Wie konnte es sein, dass Susanne eine Familienfreundschaft und ihre Eltern ausgenutzt hatte, um ihre ideologischen Ziele für die RAF zu realisieren?

    Es war für mich eine innere Notwendigkeit, Corinna zu schreiben. Ich kannte sie nicht. Und wenn ich sie vielleicht einmal als Kind gesehen hatte, so besaß ich daran keine Erinnerung mehr. Corinna war die Tochter von Jürgen Ponto. Corinna war die schmale Erscheinung neben ihrer Mutter auf dem Foto von Jürgens Beerdigung, das ich so oft betrachtet hatte. Corinna war für mich weniger eine konkrete Person als eben die Tochter des Mannes, dessen Tod meine Schwester ermöglicht und mit zu verantworten hat. Seitdem Corinnas Mutter Ignes Ponto noch im Jahr 1977 den Kontakt zu uns abgebrochen hatte, hatte es niemals wieder eine Begegnung oder Korrespondenz zwischen den Familien gegeben. Ich schrieb Corinna Ponto einen Brief, der – in Auszügen – so lautete; dabei bezog ich mich auch auf Interviews, die sie gegeben hatte:
    Liebe Frau Ponto,
    alles, was ich in den letzten Monaten von Ihnen gelesen habe, hat mich tief berührt. Ich wusste ja nie etwas von Ihrer Seite. Mir war noch nicht einmal klar, wie wenige Jahre wir altersmäßig auseinander sind. 1977 war auch für mich der Einbruch in meinem Leben. Nicht nur wegen des unglaublichen Schreckens, den das Verbrechen an Ihrem Vater auch für mich bedeutete. Sondern auch wegen der schieren Unmöglichkeit, verstehen zu können, dass meine Schwester das möglich gemacht hatte. Ihr Vater war mein Patenonkel und hatte insofern für mich eine große Bedeutung. (…) Ihren Vorwurf an meine Eltern, sie hätten doch auf keinen Fall meine Schwester zu Ihnen lassen dürfen, kann ich gut verstehen, und ich habe viele Jahre ähnlich gedacht. Meine Eltern hatten vor der Ermordung Ihres Vaters den Eindruck, dass Susanne wieder auf dem richtigen Weg, zurück in die Bürgerlichkeit, sei. Sie haben, so sagt meine Mutter, gerade weil Susanne die Nähe zu Ihren Eltern suchte, geglaubt, sie hätte sich gefangen. (…) Meine Eltern wussten, dass meine Schwester sehr aktiv im sehr linken Milieu war, und haben sich darüber sehr gesorgt. Aber es gab, soweit ich weiß, keine Hinweise darauf, dass Susanne etwas mit [dem RAF -Überfall von 1975 auf die Deutsche Botschaft in] Stockholm zu tun gehabt hätte, und ich bin mir sicher, dass meine Eltern Entsprechendes nicht angenommen haben. Es gab allerdings die Festnahme an der niederländischen Grenze. Ich weiß nicht genau, wie meine Eltern das gewertet haben. Ich habe aber den Eindruck, dass meine Eltern – das ist übrigens für mich selbst schwer verständlich – diese Festnahme oder auch Susannes Beteiligung an einer der ersten Hausbesetzungen in Hamburg nicht in einem Zusammenhang gesehen haben, der sie über die schon vorhandene Sorge hinaus aufmerksam und kritisch gemacht hätte. Vielleicht im Gegenteil: Sie wollten ihr vertrauen. Sie wollten auch darauf vertrauen, dass sich alles wieder einrenken würde. Aber das ist zum Teil Spekulation.
    Es ist nicht mein Anliegen zu versuchen, etwas zurechtzurücken oder zu verteidigen. Die schreckliche Tat meiner Schwester ist mir zutiefst fremd. Der Verrat an Ihrer Familie wiegt für mich unendlich schwer, und er ist für mich so unbegreiflich, so unvorstellbar wie kaum etwas Anderes auf der Welt.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Julia
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