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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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dass S. eingetroffen sei, als die drei Besucher plötzlich vor ihr auf der Terrasse standen: ein bleicher junger Mann, eine ebenfalls unbekannte Frau und S. mit einem fast schon verwelkten Heckenrosenstrauß in der Hand – alle drei sportlich elegant zurechtgemacht.
    Meine Mutter bat meinen Vater daraufhin, das Telefongespräch ins Wohnzimmer umzustellen, damit sie es fortsetzen konnte – er solle erst auflegen, wenn er ihre Stimme am anderen Apparat gehört habe. Ihr schoss noch der Gedanke durch den Kopf: Die drei müssen wohl Sorgen haben, die sie mit ihm besprechen wollen. Sie setzte das Gespräch mit meiner Tante nach dem vergewissernden »Gut, ich leg nun auf« meines Vaters und dem Verbindungsknarren in der Leitung im Wohnzimmer fort.

    Und genau in den nun folgenden dramatischen Minuten verwoben sich zwei deutsche Geschichtsachsen schicksalhaft. Renate von Moltke ist eine Schwägerin von Helmuth James von Moltke. Als Widerstandskämpfer war er von Hitlers Naziterroristen im Januar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet worden. Nach 32 Jahren erlebte meine Tante nun als stumme Zeugin, wie wieder ein Schwager von anderen Terroristen hingerichtet wurde. Hitlers Kinder hat die englische Publizistin Jillian Becker die RAF – Terroristen genannt – in diesem Moment, durch diese Telefonader, waren beide deutsche Terrorphasen miteinander verflochten.
    Wenn ich auf diesen Moment schauen soll, wende ich immer noch innerlich den Kopf ab, daher soll meine Mutter hier selbst zu Wort kommen, denn sie ist Zeugin der Tat:
    Im Haus ist es dunkel. Nur ein Strahl Tageslicht flutet durch die Tür, durch die alle eben auf die Terrasse getreten sind, in den Essraum. Ich eile ins angrenzende Wohnzimmer, um Jürgen nicht lang auf meine Stimme warten zu lassen, und setze das Gespräch mit meiner Schwester fort. Während sie spricht, höre ich Jürgen, ins Esszimmer kommend, laut sagen: »Da wollen wir mal eine Vase holen.« 
    Kurz darauf: »Sie sind wohl wahnsinnig geworden!«
    Ich sitze hinter einem kleinen Kaminvorsprung und beuge mich erschrocken vor und schaue in die Richtung seiner Stimme. Erstarrt sehe ich den bleichen Mann und Jürgen, vom Außenlicht nur schwach beleuchtet, vor dem Esstisch stehen. Beide halten einen Arm hochgestreckt, wo die Arme zusammenkommen, ragt eine Pistole. Jürgen hat die Pistole in Selbstverteidigung dem Mann entwinden wollen. Ihr Lauf zeigt nicht mehr auf ihn, als sich ein Schuss löst. Später rekonstruierte man, dass der erste Schuss in das Fenster einschlug.
    Sekunden danach lebt er nicht mehr, denn die andere Frau kommt durch die Terrassentür hereingestürmt, hereingestürzt und feuert viele Male. Ich kann Jürgen nicht mehr sehen – er muss zurückgetreten sein –, das Zimmer ist voller Pulverdampf. Es ist alles unheimlich leise und geht rasend schnell. Doch wie bei einer Unfallerinnerung sind diese Bilder zeitlupenlangsam in mir. Jürgen stürzt getroffen wenige Meter vor mir zu Boden. Die Mörder rasen, angeführt von Susanne, aus dem Zimmer.
    Den Hörer habe ich unbewusst aufgelegt – ich wähle den Notruf, schreie nach Polizei, Rettungswagen, stürme zu Jürgen, kann nicht fassen, nicht begreifen, was ich sehe. Der Fahrer sieht es mit einem Aufschrei, wir betten Jürgen auf Kissen – er lebt noch, aber er bewegt sich nicht mehr, liegt in einer Lache von Blut auf dem Angesicht.
    Ein Opfer der »Kriegführenden« mitten im Frieden.
    Eine Hinrichtung nennen sie es. Den sie kamen zu entführen, haben sie hingerichtet, in Sekunden – einen freundschaftlich gewogenen Gastgeber in seinem gastfreien Hause. 
    Sieben lange Minuten hocke ich neben ihm. Ein Hubschrauber landet auf der Wiese vor dem Haus, zwei Sanitäter eilen ins Zimmer. Wortlos öffne ich die große Mitteltür, aus der sie ihn hinaustragen. 
    Ich werde zu Stein, als er seinen tosenden Flug in den Tod antritt.
    Da ist es wieder, dieser lähmende Schlag – wie schon einmal. [Meine Mutter verlor als Kind im Alter von 14 Jahren ihre Eltern bei einem Bombenangriff auf einen Luftschutzkeller in Berlin.]
    Es ist, als ende alles Leben, alles Lebendige in mir.
    Ich fühle, dass er sterben wird – sterben aus der Stille eines sonnengetränkten Nachmittags des Friedens. 
    Dann beginnt das Haus nicht mehr mein Haus zu sein. Kriminalbeamte, Polizei und ihre Signale, Anrufe … wie es den Kindern sagen – was als Nächstes tun? Ich möchte für ihn beten – der Pfarrer sitzt fünf Minuten später neben meinem Bett, aber ich bin
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