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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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Albrecht
    Ich war aufgeregt, nachdem ich den Brief an die Adresse der Jürgen Ponto-Stiftung abgeschickt hatte. Aber ich hatte keine Vorstellung, was sich daraus ergeben könnte. Ich fühlte eine Art Scham in mir aufsteigen. Wieso hatte es so viele Jahre gebraucht, bis ich an Corinna gedacht hatte? Wieso hatte ich seit der Tat, also seit dreißig Jahren, immernur an unsere Geschichte und unser Leid gedacht, mich aber noch nicht einmal gefragt, wie es der Familie Ponto danach ergangen war? Die Familie Ponto, den Mord an Jürgen, hatte ich durch die Brille der Schwester einer Mittäterin gesehen. Nicht aber aus der Sicht der Opfer. Einerseits ist es vielleicht ganz normal, dass man in einer solchen Situation nur das eigene Unglück sieht und alles andere ausblendet. Andererseits scheint es mir menschlich völlig inakzeptabel, dass sich unsere Familie, nachdem Ignes Ponto im Herbst 1977 meinem Vater geschrieben hatte, dass sie keinen Kontakt mehr wolle, weil ein gemeinsames Trauern um ihren toten Mann und seine Tochter unmöglich sei, nie wieder um Pontos bemüht hatte.
    Besonders bitter schien mir, dass mein Vater – der ebenso der Patenonkel von Corinna war wie Jürgen meiner – nie mehr einen Brief an Corinna geschrieben hatte. Oder hatte er? In seinem Nachlass befinden sich Briefe aus allen Lebensphasen. Auch ein »Brief« an seinen toten Freund Jürgen aus dem Jahre 1992 ist dabei. Hier schreibt mein Vater: »Viel zu selten und viel zu oberflächlich habe ich Deiner und Deiner Familie in all diesen Jahren gedacht. Ich hatte wohl nicht die Kraft oder den Mut dazu …«
    Es ist merkwürdig, wie sehr Erwachsene dazu neigen, Kinder zu übergehen. Und gleichzeitig weiß ich inzwischen, wie schwer es ist, das richtige Maß zu finden, was Geschichten angeht, die man seinen Kindern erzählt.
    Corinnas Antwort kam prompt:
    Liebe Julia Albrecht,
    dass Sie mich in Ihrem Brief mit »Sie« anreden, ist sehr feinfühlig – also werde ich auch so antworten. (…) Ich danke Ihnen für Ihren Brief. Wir sollten uns sehen – immer wieder habe ich auch an Sie und Ihre Empfindun gen und Ihren Schrecken gedacht. Das geht mir auch sehr nahe. Es wird gut sein zu sprechen. Glauben Sie mir, ich habe ein sehr vielschichtiges Bild über die RAF und auch über Ihre Schwester, und ich habe immer versucht, mich so vorsichtig wie möglich zu äußern.
    Vielleicht sollten wir uns auch erst einmal nur schreiben, das mag uns zunächst leichter fallen, und es wäre auch eine Erinnerung für uns.
    Mit freundlichem Gruß
    Corinna Ponto
    Ich freute mich. Ich tanzte auf einem Bein. Ich hatte das Gefühl, dass wir den Anfang eines Fadens gesponnen hatten, der wichtig werden könnte. Dabei wusste ich nicht, was wir zu besprechen haben würden.
    So wechselten wir einige Briefe. Ich wollte sie treffen. Ich wollte an irgendetwas anknüpfen. Ihr Vater war tot, meiner war bereits sehr schwach und starb im Dezember 2007, sieben Monate, bevor Corinna und ich uns zum ersten Mal trafen. Ich hoffe, er hat noch verstanden, dass Corinna und ich Kontakt zueinander aufgenommen hatten.
    Das erste Treffen fand auf dem Pariser Platz in Berlin statt. Für Corinna war es wichtig gewesen, sich unter freiem Himmel zu treffen. Ich war pünktlich mit dem Fahrrad da, konnte aber zunächst nicht auf den Platz gelangen, der hochsicherheitsmäßig abgesperrt war. Ein Polizist vor dem Hotel Adlon sagte, die US – Außenministerin Condoleezza Rice sei in der Stadt und werde gleich vorfahren. Schließlich fand ich von einer anderen Seite einen Zugang zum Platz. Auf der Bank, an der wir uns verabredet hatten, saß eine große blonde Frau in Jeans und schaute auf ihr Handy. Als sie mich sah, stand sie auf, und als ich bei ihr war, nahm sie mich in die Arme.
    Damit war das Eis gebrochen. Dass sie mich in die Armenahm, fand ich unglaublich. Und extrem erleichternd. Diese Geste zeugte für mich von so viel Großzügigkeit, dass mir schon deshalb alles möglich erschien.
    Später, bei einem weiteren Treffen, erzählte Corinna, sie habe in mir meinen Vater erkannt oder erspürt, und in gewissem Sinne sei diese Begegnung für sie auch die Begegnung unserer Väter gewesen. Für mich war das anders. Zum einen habe ich vielleicht keine so innige Beziehung zu meinem Vater gehabt wie Corinna zu ihrem. Zum anderen aber fühle ich mich als Angehörige einer Täterin, die der Angehörigen des Opfers begegnet. In mir sind immer auch Scham- und Schuldgefühle präsent, die mir den Umgang mit der
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