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Patentöchter

Patentöchter

Titel: Patentöchter
Autoren: Julia Albrecht & Corinna Ponto
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Geschichte – und mit Corinna – erschweren.

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Auf einer Bank
am Pariser Platz
Corinna Ponto
    Wenn ich an unsere erste Begegnung denke, bleibe ich kurioserweise immer an den beiden jungen Polizeibeamten hängen, die genussvoll Apfelkerne ausspuckten. Sie saßen mit baumelnden Beinen in der Tür ihres Mannschaftswagens, zwei Meter von unserer Bank entfernt. Ihr Lächeln – sie konnten ja nicht ahnen, wem sie da die Kerne vor die Füße zielten – traf auf unser Staunen, auf die große Spannung, die wir in diesem Moment empfanden. Wir lächelten zurück, weil die Situation so »traumhaft« komisch war.
    Da trafen wir uns, zwei Pole einer politischen Geschichte, die die Bundesrepublik aufs Äußerste gefordert hat und bis heute eine der größten Herausforderungen ihrer Geschichte darstellt, nach über dreißig Jahren ausgerechnet auf dem in diesem Moment am schärfsten bewachten Platz in ganz Deutschland. Hubschrauber kreisten über uns, jeder Zentimeter des Platzes war von Polizeiwagen abgesichert, und diese beiden Vertreter der neuen Generation Staatsgewalt lächelten uns frohgemut an und kauten Äpfel. Das Geräusch der aufprallenden Kerne höre ich noch heute deutlicher als den impertinenten Lärm der Hubschrauber.
    Auf der Bank am Pariser Platz begann ein Dialog, in dem wir beide auf gemeinsame und unterschiedliche Fragenschauten, und wir fingen an, uns gegenseitig von einzelnen Lebensabschnitten zu berichten. Unser Gespräch bekam bald einen fließenden Rhythmus des wechselseitigen Erzählens, von Anfang an auch unterbrochen von Pausen des Respekts. Das Gespür, wann wir besser zu sprechen aufhörten, war immer präsent.
    Bei unserem ersten Treffen standen Julia Tränen in den Augen. Ihre erste Frage war: »Haben Sie ein Taschentuch?«
    Ich gab ihr eines mit den Worten: »Normalerweise habe ich nie eines dabei.«
    Bei unserem zweiten Treffen habe ich geweint.
    Wir trafen uns in dem Gedanken, diesen Dialog, einander schreibend, fortzusetzen, um unsere Erinnerungen zu stärken und festzuhalten. Das Vertrauen, uns auf einen gemeinsamen Weg zu machen, entwickelte sich gleichzeitig und spontan. Indem wir uns die Erinnerungen mitteilten, konnten wir sie teilen.

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Eine Geschichte aus dem
letzten Jahrhundert
Corinna Ponto
    Wir sind eine ganz normale Familie. Wir lachen viel, wir albern, wir streiten uns. Unsere Kinder wachsen heran. Doch parallel dazu wächst etwas schattenhaft Drohendes heran. Da gibt es einen spalttiefen Riss in der Familiengeschichte, der zwar kollektiv beobachtet wurde und der mit diesem Land zu tun hat, aber er wird von uns als Einzelschicksal erlebt.
    Wir leben in der Gegenwart, wir lernen für die Zukunft und machen uns Gedanken um sie – in die Vergangenheit schauen wir kaum. »Das erzähle ich dir, wenn du größer bist!« Wie lange kann ich diesen Satz noch zu meinen beiden Kindern sagen?
    Es gibt zwei Fluchten in der Familiengeschichte. Die Geschichte der Flucht der Familie ihrer Großmama vor dem Kriegsterror wurde ihnen schon erzählt. Zehn Tage brauchten ihre Geschwister mit dem letzten Lazarettzug aus Schlesien, unterbrochen von Bombenangriffen, bis zum Internat in Brandenburg, wo sie meine Mutter abholen wollten. Sie verpassten sich und fanden erst nach vier Wochen Bangen in Holstein wieder zusammen. Jedoch die zweite, die Flucht vor dem RAF – Terror, die kam mir noch nicht über die Lippen. Yorck und David sind jetzt vierzehn und elf Jahre alt,und noch immer empfinde ich eine Scheu, ihnen alles genau zu erzählen – aus der Sorge heraus, sie könnten sich angesichts der ins Private eingedrungenen Gewalt zu sehr fürchten.
    Inzwischen, Julia, habe ich meinem älteren Sohn nach Andeutungen über das Jahr 1977 von unserer Begegnung erzählt, woraufhin er meinte, Du müsstest ja ganz alt sein. Für ihn ist es eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert. Ja, es ist eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert – aber Du bist jung, und unsere Begegnung ist jung, eine Zeitmaschine gewissermaßen.
    Jahrelang war es eine Art tragischer »Unfall«, bei dem der Großvater ums Leben kam, dann trat allmählich der Begriff »Terroristen« auf die Geschichtenbühne – aber den ganzen Ablauf, Terrorgeschichte im Wohnzimmer, von Anfang an chronologisch bis zum heutigen Tag erzählen? Wie?
    Soll ich aus dem von Deiner Schwester unterzeichneten »Bekennerbrief« zitieren: die Typen, die Kriege in der Dritten Welt entfesseln und Völker ausrotten? Der verschmitzt lächelnde
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