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Klassentreffen

Titel: Klassentreffen
Autoren: S Vlugt
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vorstellen«, sagt er ernst. »Und deshalb will ich auch nicht, dass der Schuft ungestraft davonkommt. Kann sein, dass er furchtbar wütend war, aber das ist ja wohl kein Grund, jemanden zu würgen. Wollen wir zusammen zur Polizei gehen?«
    Müde schüttle ich den Kopf.
    »Sabine, das bist du dir schuldig. Schau doch nur!« Mit sanftem Zwang zieht er meine Hände weg, sodass der Bademantel von meinem Hals rutscht.
    »Schon gut«, sage ich. »Wirklich, Robin, lass gut sein. Viel wichtiger ist, dass ich jetzt weiß, wer Isabel umgebracht hat.«
    In seinem Blick liegt etwas wie Entsetzen, als er mich ansieht. »Ja, weißt du es denn? Hast du das gemeint mit dem letzten Stück Erinnerung?«
    »Ja.«
    Das muss er erst mal verdauen. Er starrt eine Weile vor sich hin und hebt dann den Blick.
    »Wer …?«
    »Ein Fremder«, falle ich ihm ins Wort. »Es war ein mir völlig unbekanntes Gesicht. Obwohl, so ganz stimmt das nicht. Ich kenne es von irgendwoher, aber ich weiß nicht, woher.«

    Schweigend sieht Robin mich an.
    »Es war ein relativ junger Mann«, sage ich. »Blond, schmales Gesicht, ausgeprägte Falten zwischen Nase und Mundwinkeln … Das Gesicht hab ich schon mal gesehen, aber wo? Ich grüble schon die ganze Zeit.«
    Robin sieht mich noch immer an.
    »Und jetzt?«, sagt er schließlich.
    »Heute Nachmittag fahre ich zur Polizei nach Den Helder. Hartog will mir Fotos vorlegen, vielleicht kann ich ihn identifizieren.«
    »Aha.«
    Wir schweigen beide.
    »Willst du Kaffee?«, frage ich.
    »Ja, gern.«
    Ich gehe in die Küche und setze Kaffee auf. Als die Maschine zischt und sprudelt, setze ich mich wieder aufs Sofa. Robin ist aufgestanden und steht mit dem Rücken zu mir am Fenster.
    »Woran denkst du?«, frage ich.
    Er dreht sich nicht um.
    »An Isabel. An ihren Mörder«, sagt er.
    »Ja«, sage ich leise. »Daran muss ich auch die ganze Zeit denken. Ihr Mörder. Was bringt jemanden dazu, dass er einem anderen das Leben nimmt? Wie lebt man damit weiter? Wie kann man so was verschweigen?«
    Robin sagt nichts.
    »Man liest Zeitung, sieht Suchmeldungen, hört die Aufrufe der verzweifelten Eltern im Fernsehen. Wie kann einen das nur kalt lassen? Bereut man die Tat oder hat man bloß Angst vor der Entdeckung?«
    »Tja«, sagt Robin. Er dreht sich um und mustert mich lange. »Vorhin hast du gesagt, das letzte Stück Erinnerung sei zurückgekommen.«

    »Ja …« Ich betrachte meine Fingernägel, damit ich meinen Bruder nicht ansehen muss.
    »Und heute Nachmittag willst du also den Täter identifizieren.«
    »Ja.« Noch immer schaue ich Robin nicht an.
    »Willst du das wirklich?« In seiner Stimme schwingt etwas mit, sodass ich am liebsten auf ihn zurennen und ihn in die Arme nehmen würde. Doch ich mache es nicht, sondern bleibe mit angezogenen Knien auf dem Sofa sitzen. Ich kann ihn nicht ansehen, geschweige denn anfassen.
    »Ich muss wohl«, sage ich leise.
    »Warum? Bist du dir deiner Sache so sicher? Schließlich hat dich dein Gedächtnis lange im Stich gelassen. Du hast selbst gesagt, dass du immer wieder geträumt hast, was mit Isabel passiert sein könnte. Da könnte das, woran du dich erinnerst, doch auch ein Traum gewesen sein, oder?« Robin geht im Zimmer auf und ab, eine Hand hat er in der Hosentasche, mit der anderen gestikuliert er wie ein Anwalt im Gerichtssaal.
    »Ich glaube nicht, dass es ein Traum ist«, sage ich. »Aber die Polizei sagt das Gleiche wie du. Ich hab überhaupt nicht den Eindruck, dass sie viel auf meine Worte geben. Aber das müssen sie selbst entscheiden; ich sage lediglich, woran ich mich erinnere. Was sie damit anfangen, ist ihre Sache.«
    Vorsichtig schaue ich zu Robin hin und sehe tiefe Besorgnis auf seinem Gesicht. »Soll ich dich begleiten?«, bietet er an.
    Ich schüttle entschlossen den Kopf. »Nein, das ist nicht nötig.«
    »Wirklich nicht?«
    »Ich komme schon zurecht.«
    »Ja«, sagt Robin. »Irgendwie kommst du immer erstaunlich gut zurecht.«

    Er geht spontan auf mich zu und nimmt mich fest in den Arm. Das überrascht mich, denn wir verstehen uns zwar sehr gut, knuddeln uns aber eher selten.
    »Ich hab dich lieb, Schwesterchen.« Er küsst mich auf die Wange.
    »Das weiß ich doch«, sage ich lächelnd, obwohl mir alles andere als froh ums Herz ist.
     
    Es ist Ende Juni, aber der Sommer scheint vorbei zu sein. Als ich eine Stunde später mit den Schlüsseln in der Hand zu meinem Auto gehe, ist die Straße voller Regenpfützen. Ein plötzlicher Sturm hat herbstlich anmutende
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