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Kirchwies

Kirchwies

Titel: Kirchwies
Autoren: Hannsdieter Loy
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über den Abstand. Dieser Teil des Pfads lag so weit zurück, dass sie sich kaum den ganzen Weg vorstellen konnte, den sie seither gegangen war.
    Auf der nächsten Seite war die Traueranzeige aus der Zeitung von Mamas Tod eingeklebt. Klein und mickrig. Unpersönlich. Hastig überschlug sie ein paar Seiten.
    Der Abstand war wie weggewaschen. Trauer stieg in ihr empor.
    »Papa mit einer Frau in Unterwäsche« stand da geschrieben. »Sie kommen aus Mamas Schlafzimmer.«
    »Wieder eine andere Frau. Schreie aus dem Badezimmer. Lachen. Was geschieht da?«
    Wenige Seiten weiter hieß er nur mehr »Vater«.
    »Vater lässt mich den Rock hochziehen. Schlägt auf den nackten Po.«
    »Vater wartet hinter der Tür auf mich. Schlägt mir ins Gesicht. Warum?«
    »Ich hasse ihn. Und ich hasse all diese Frauen.«
    »Sie ist schon zum dritten Mal bei ihm. Ich werde zuerst sie umbringen. Und dann ihn.«
    Auf leisen Sohlen war sie aus der Garage getappt. Das kleine rote Buch, ihr Tagebuch, nahm sie mit und versteckte es in ihrer Wohnung.
    Immer und immer wieder hatte sie es seither gelesen. Voll Hass und Rache. Der Vorsatz zu töten hatte sich zunehmend verfestigt. Ein Plan war entstanden.
    Warum hatten die Idioten das Grab nicht schon vorher überwacht?, überlegte sie nun. Warum mussten sie jetzt diesen Aufwand betreiben und die Leiche wieder ausgraben? Fast leid tat sie ihr, die Thea Brommel. Sie hatte nichts gegen sie persönlich. Aber gegen ihren Lebenswandel …
    Etwas beunruhigte die Fanny bei diesem Gedanken. Fraglos nur eine Kleinigkeit.
    Fritzi fiel ihr ein. Sie war im Klinikum, hatte sie gehört. Also lebte sie. Sollte sie nachhelfen? Auch diese Frau hätte den Tod verdient. Sie trieb es mit Campari, mit Pauli, dem Maler. Und nun hatte Fanny den neu angereisten Journalisten in Verdacht.
    Also war auch sie eine Hure.
    Sie hatte das Bedürfnis, in die Kirche zu gehen. Lange war sie nicht in der Kirche gewesen. Nun wollte sie ihrem Herrgott danken und die Sache mit ihm besprechen.
    Kirche.
    Klinikum.
    Friedhof.
    Was zuerst?
    Friedhof schied aus.
    Ihre Nerven waren gespannt wie Klaviersaiten.
    Der Gedanke daran, wie gut alles geklappt hatte und wie leicht es gelingen konnte, erregte sie. Es reizte sie, weiterzugehen.
    In dem Augenblick, als sie zugeschlagen hatte, war sie sich nicht vollkommen sicher gewesen, ob sie Fritzi Gernot töten wollte. Sie ließ den Prügel einfach niedersausen. Was immer aus der Wucht des Schlags entstehen würde – ihr sollte es recht sein. Gottesurteil. Nun aber konnte sie den Gedanken nicht mehr ertragen, dass diese unmoralische Frau noch am Leben war.
    Sie ging hinaus in den Garten, nahm auf dem runden Hocker Platz, hälftelte vier Kohlköpfe und setzte das fort, was sie sehr gut konnte: die Sauerkrautzubereitung. Für sie war das die beste Art, ein Problem im Kopf methodisch zu bearbeiten.
    Es gab mehrere denkbare Möglichkeiten. Bei allen musste sie berücksichtigen, dass die Polizei, dass Campari ihr womöglich bald auf die Schliche kommen würden. Irgendwo musste sie schließlich Spuren hinterlassen haben. Schließlich meinte sie, eine Lösung gefunden zu haben, wie es ihr todsicher gelingen würde, zu der Frau im Klinikum vorzudringen. Es war eine große Verlockung.
    Es würde nun schnell gehen müssen. Fanny war sicher, dass Fritzi Gernots Zimmer bewacht wurde. In jedem billigen Film sind Krankenzimmer mit bedrohten Patienten von Polizisten bewacht. Sie musste also eine passende Verkleidung finden. Damit wollte sie bereits die Kirche betreten, um Zeit zu sparen. Denn dass sie vor der nächsten Tat noch einmal zu ihrem Herrgott sprechen würde, war ihr ein Herzensanliegen. Der Herr Jesus würde sie schließlich auch verkleidet erkennen und mit ihr sprechen. Seit sie Thea getötet hatte, spürte sie immer einen Anflug von Trauer, wenn sie seine Stimme hörte.
    * * *
    Eine Frau schrie gellend. Die Zeit schien stillzustehen.
    Fritzi kannte diese Stimme. Ihr Klang traf sie wie ein Keulenschlag. Sie fühlte sich wie gelähmt. Spürte das feuchte, warme Blut auf ihrer Haut. Wieder wurde ihr bewusst, wie hilflos sie war. Sie hatte völlig versagt.
    Odilo! Wo war ihr Sohn? Zum zweiten Mal in ihrem Leben begegnete ihr solch eine Katastrophe. Das erste Mal war Odilo an einen Baum gebunden gewesen. Es war stockfinstre Nacht gewesen.
    Nein. Sie durfte diesen Traum nicht noch einmal durchleben. Unter großen Anstrengungen gelang es Fritzi, die Augen zu öffnen und die Gespenster abzuschütteln.
    Sie
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