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Kirchwies

Kirchwies

Titel: Kirchwies
Autoren: Hannsdieter Loy
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sah sich um. Ihr Krankenzimmer lag im Halbdunkel. Doch dann erschrak sie erneut zu Tode.
    »Wenn du das geringste Geräusch machst, töte ich dich.«
    Wieder eine Stimme, die ihr bekannt vorkam. Eine markante männliche Stimme. Mit einer Schärfe, die ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie mobilisierte alle Kräfte. Spannte die Muskeln an. Machte sich bereit für einen Kampf.
    Er war ein kräftig gebauter Mann, sie konnte die Konturen erkennen. Sie sah das Weiß seiner Augen.
    Und dann das Weiß seiner Zähne.
    Er lachte. Wie über einen guten Scherz.
    Nun erkannte sie den Mann.
    »Ich wollte dich nicht erschrecken. Entschuldige, Fritzi«, sagte Pauli, der Maler. »Ich wollte dich nur besuchen. Was dir passiert ist, hat sich bis zu den Fischen im Grünsteinsee rumgesprochen.«
    * * *
    In der Kirche kniete Fanny vor dem Herrn nieder. Sie sprach ein kurzes Gebet und wartete darauf, dass er antworten würde.
    Doch der, der am Kreuz hing, antwortete nicht. Jedenfalls nicht so, wie die Pfarrhaushälterin Fanny es erwartet hatte.
    Er antwortete auf seine Art. Es begann mit einem leisen Grummeln.
    Fanny hatte die Augen geschlossen. Sie bildete sich ein, das Geräusch in ihrem Ohr würde von einer Lawine verursacht, die weit oben am Wildalpjoch abging. Sie musste lächeln. Natürlich reine Einbildung, dachte sie. Mitten im Sommer. Hehehe!
    Doch damit hatte sie die Rechnung ohne ihren Herrn gemacht. Der Herr meinte es ernst.
    Das Loch, die Spalte, die kaputte Wand oben am Glockenturm bröckelte diesmal nicht nur. Sie verzerrte ihren bisher milden Gesichtsausdruck zu einer tödlichen Fratze. Ein Erdrutsch, ein Steinschlag, ein Felssturz, ein lawinenähnlicher Abgang von Gesteinsbrocken, Geröll, Mauerresten und anderen Erdmassen schüttete von einer Sekunde zur anderen den gesamten Innenraum der Kirche zu.
    Fanny, in einem letzten Anflug von Erschrecken, öffnete die Augen und sah den Tod auf sich zurasen. Flüchten hatte keinen Sinn mehr. Also blieb sie knien und legte die Stirn auf die gefalteten Hände. Sie wollte noch etwas sagen, doch das blieb ihr verwehrt.
    Sie versank in einem Meer von Wucht, von Steinen und von Staub. Ihr Körper wurde verwirbelt, zerquetscht und erstickt.
    * * *
    Den Körper, den die Feuerwehr unter den Trümmern fand, zu identifizieren, war eine knifflige Aufgabe. Pater Timo konnte seine Tränen nur schwer zurückhalten, als er es tat.
    Warum Fanny sich dergestalt verkleidet hatte, würde für Campari ewig ein Rätsel bleiben. Sie trug eine Perücke mit kurzem blondem Haar, eine enge schwarze Hose und eine schwarze Lederjacke. Nicht irgendeine Lederjacke, sondern die Dienstjacke der Interventionseinheit von Liechtenstein. An ihrem Gürtel hing der Rest eines Bügels einer Sonnenbrille.
    »Verstehen Sie das?«, fragte er den Pater Timo.
    Der verneinte.
    »Dies ist das Material, aus dem die Theologie ihre einzige Berechtigung zieht«, sagte Campari mit großen Augen. Er hustete sich den Kirchenstaub aus der Lunge. »Unwissenheit und Glaube.«
    Pater Timo schwieg zunächst. Dann legte er dem anderen einen Arm auf die Schulter und blickte ihn von oben herab an.
    »Die Bibel gebietet uns«, sagte er in ruhigem Ton, »unsere Nächsten zu lieben und auch unsere Feinde zu lieben – wahrscheinlich deshalb, weil es in der Regel dieselben Leute sind.«

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Anmerkung des Autors:
    Staub, Zerstörung, Tod. Kein schönes Ende.
    Doch für Kirchwies sah die nähere Zukunft gar nicht so grau aus.
    Als der Herbst ins Land zog, färbten sich die Blätter blutrot und quittengelb, und Tatsache ist, dass Kirchwies auch im folgenden Herbst noch autofrei war. Und dass dem Herzlichsten Dorf sein besonderes Attribut nicht etwa aberkannt wurde.
    Im Gegenteil. Der Mord und die anderen Verbrechen hatten der Attraktivität des Orts keinen Abbruch getan. Die Übernachtungszahlen im Blumenhof stiegen auf hundert Prozent. Fritzi musste sich beeilen, rechtzeitig wieder vollkommen gesund zu werden, um Felix Breitenberg bei der Führung des Hotels beizustehen. Anton Scheiberl gliederte dem Viecherhof einen Streichelzoo für Kinder an, für die Erwachsenen ließ er einen Neun-Loch-Golfplatz bauen. Wang Mings neuer Supermarkt wurde von den Touristen überschwemmt. Für kurze Zeit verfolgte er den Plan, seinen Bestand an Hühnern in chinesischer Käfighaltung aufzustocken. Nur unter Androhung der Todesstrafe war es Campari gelungen, ihn zur Freilandversion zu bewegen.
    Herden von Fremden aus den
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