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Kirchwies

Kirchwies

Titel: Kirchwies
Autoren: Hannsdieter Loy
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gerochen hatte, brach er in ein infernalisches Freudengeheul aus, das einem Wolfsrudel alle Ehre gemacht hätte.
    »Ja, Brauner, wo kommst du denn her? Was willst du denn hier?« Heidi war es sichtlich peinlich, mit dem Tier in Verbindung gebracht zu werden.
    »Heidi«, rief die Fanny hinüber. »Denkst du an das Rezept für die Pfaffenbäucherl?«
    Gleichzeitig ging drunten am Libellenweg ein Mann vorbei. Langsam ging er vorbei. Er betonte jeden Schritt. Offensichtlich wollte er gesehen werden.
    »Hallo!«, rief Thea Brommel laut und winkte ihm überschwänglich zu. »Komm doch herein, junger Mann!«
    Augenblicklich trat Stille ein. Alle sahen zu dem Passanten hin.
    Er hatte zerschlissene Bermudas von undefinierbarer Farbe an, seine Füße steckten in Badeschlappen, und an jedem sichtbaren Teil seines Körpers war er tätowiert. Das Auffälligste aber war seine Gestalt. Er war ein Kerl wie ein zweiflügeliger Schrank, hatte lange Haare und einen tiefschwarzen Vollbart.
    Die Partygäste sahen sich an und tuschelten. Jede Feindseligkeit untereinander war mit einem Schlag beigelegt und konzentrierte sich auf eine neue.
    »Das ist doch der …«
    »Ja, genau, der …«
    Nur zwei der Anwesenden wussten, wie der Mann mit Namen hieß.
    »Der Tätowierte.« So kannten ihn alle. Der Tätowierte.
    * * *
    »Oh Herr«, sprach Pater Timo in seiner Kirche halblaut zu dem Gekreuzigten. »Vergib uns unsere Sünden.«
    Der Herr Jesus am Kreuz war Pater Timos liebster Gesprächspartner, wenn er etwas loswerden wollte, sich in ihm das Bedürfnis breitmachte, mit jemandem allein reden zu müssen, oder wenn er eine Antwort suchte. Das mannshohe Kruzifix hing neben der Kanzel an der Südwand der Kirche und war aus purem Holz gefertigt. Die Arbeit war etwas angegraut, abgegriffen und verwittert, doch beileibe nicht alt. Trotzdem kannte keiner den Meister dieses Werkes.
    Durch eine handbreite Ritze am Glockenturm war ein Quadratzentimeter des sternenbedeckten Nachthimmels zu erkennen. Ein schmaler Mondstrahl, der Staubkörner in der Luft tanzen ließ, fiel wie ein Wunder als verglühender Scheinwerfer direkt auf das leidvolle Gesicht des Gekreuzigten.
    Pater Timo saß schräg in der Kirchenbank zu Füßen seines Herrn, ihm zugewandt und die Arme auf die vordere und hintere Rückenlehne neben ihm gestützt. Er hatte die Nase voll von Gartenfesten.
    »Du weißt, Herr Jesus, warum ich zu dir komme. Tagtäglich begegne ich solchen, die sich an dir versündigen. Doch dass sich eine Person wie diese in unserem gesegneten Dorf aufhält, ist ungeheuerlich. Dass sie zur Beichte gekommen ist, schätze ich sehr. Du vergibst alle Sünden, so sie denn wirklich und aufrichtig bereut werden. Die Person gibt vor, zu bereuen. Aber was fange ich jetzt mit dem Inhalt ihrer Beichte an?«
    Pater Timo langte nach hinten oben und strich mit der Rechten über seinen Pferdeschwanz. Eine Geste, so wie sich ein anderer an der Nase kratzt. »Hilf mir, oh Herr! Bitte rate mir, was zu tun ist.«
    Er saß mit gefalteten Händen quer auf seiner Bank, die Fußspitzen angestellt, und wartete. Es roch nach verblichenem Weihrauch, und die Bank knarzte, sobald er sich bewegte.
    Nach einer ganzen Weile ertönte die Stimme seines Herrn. Als hätte Pater Timos Anfrage einen irrsinnig weiten Weg zurückzulegen gehabt. Er kannte den Tonfall aus vielen Zwiegesprächen. Jesus hatte eine sympathisch geduldige Stimmlage und klang wie aus einem perfekt eingestellten Klangapparat.
    »Mein Sohn! Du machst es dir zu leicht. Es ist nicht meine Aufgabe, dir weltliche Entscheidungen abzunehmen. Geh in dich und tu das Richtige!«
    Damit verstummte die Stimme. Christus zog sich zurück. Und er, der Dorfgeistliche von Kirchwies, ein winzig kleiner Vertreter Gottes auf Erden, war so klug wie zuvor. Er musste sein Problem mit sich herumtragen. Und irgendwann selbst entscheiden.
    Es war wie im ganz normalen Leben.
    Gott hilft dir nur dann, wenn Matthäi am Letzten und die Not am größten ist.

vier
    Eine Myrte kroch über den Bauch des Kupferkessels und erfüllte die Luft mit dem Duft von wildem Anis. Ihre weißen Blüten sahen aus wie handtellergroße Seesterne, die spitz zulaufenden Blätter wie aus grünem Leder geformt.
    Thea hatte die Pflanze vor Jahren von einem Basketball-Champions-League-Spiel aus Valencia mitgebracht. Nun beugte sie sich hinunter, um den intensiven Duft einzusaugen. Es war fast drei Uhr in der Früh, und alle Gäste waren gegangen. Die plötzliche Stille tat gut.
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