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Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Titel: Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
Autoren: Sue Grafton
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Klapptür aufging, und Delbert Squalls herunterrief: »Roger?«
    »Ja?«
    »Hier oben ist ein Mann, der dich sprechen will.«
    »O verdammt«, zischte er. Und dann zu Delbert: »Sag ihm, ich komme gleich.«
    Ich fixierte ihn mit einem Auge, außerstande zu sprechen, und sah, wie er ungeduldig das Gesicht verzog. Er schob die Arme unter mich, zerrte mich in Sitzposition und lehnte mich gegen die Wand. Wie eine Stoffpuppe saß ich da, mit hängenden Schultern und steif nach vorn ausgestreckten Beinen, die Füße einander zugekehrt. Wenigstens konnte ich atmen. Über mir hörte ich jemanden herumlaufen. Ich wollte ihn warnen. Ich wollte ihm sagen, daß er einen entsetzlichen Fehler machte. Während ich noch grunzende Geräusche von mir gab, stieg Roger bereits die Leiter hoch, wobei seine Füße tack, tack, tack machten, während Kopf und Schultern bereits verschwanden. Tränen füllten meine Augen. Meine Glieder waren von dem Elektroschock noch gelähmt. Ich versuchte, die Arme zu bewegen, aber das Ergebnis war das gleiche Gefühl der Fruchtlosigkeit wie wenn man feststellt, daß einem Arme oder Beine »eingeschlafen« sind. Ich begann, die eine Hand zur Faust zu ballen, um so den Blutkreislauf anzuregen. Mein ganzer Körper fühlte sich seltsam taub an. Ich lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören. Mit großer Mühe gelang es mir schließlich, mich zur Seite fallen zu lassen und mich mit Händen und Knien aufzurichten. Schwer atmend hielt ich mich in dieser Stellung, bis ich es schaffte, auf die Beine zu kommen. Ich weiß nicht, wie lange ich dazu brauchte. Oben herrschte völlige Stille. Ich griff nach der Leiter und klammerte mich an die nächstgelegene Sprosse. Nach einem weiteren Moment machte ich mich an den Aufstieg.
    Als ich oben herauskroch, war im ganzen Korridor kein Mensch zu sehen. Ich quälte mich vorwärts. Es ging schon wieder besser, aber meine Arme und Beine fühlten sich seltsam losgelöst an. Ich gelangte zu Rogers Büro, spähte zur Tür hinein und lehnte mich gegen den Türrahmen. Er war nirgends zu sehen. Meine Pistole lag ordentlich mitten auf seiner Schreibtischunterlage. Ich ging hinüber, nahm sie an mich und steckte sie mir wieder hinten in den Hosenbund.
    Ich verließ das Büro und ging in die Empfangshalle. Delbert Squalls saß dort am Tresen und blätterte im Telefonbuch. Vermutlich wollte er eine Runde Pizza für die Nachtschicht bestellen. Er sah auf, als ich vorbeiging.
    Ich fragte: »Wo ist Roger hingegangen?«
    »Sagen Sie bloß nicht, er hat Sie da unten sitzen lassen? Der Kerl hat keine Manieren. Sie haben ihn knapp verpaßt. Er ist mit diesem Mann im Mantel weggefahren. Hat gesagt, er käme gleich wieder. Möchten Sie ihm eine Nachricht hinterlassen?«
    »Ich glaube nicht, daß das nötig sein wird.«
    »Oh. Tja, wie Sie wollen.« Er wandte sich wieder seiner Suche zu.
    »Gute Nacht, Delbert.«
    »Nacht. Schönen Abend noch«, wünschte er und griff nach dem Telefon.
    Ich trat aus dem Gebäude in die kühle Nachtluft hinaus. Der Wind hatte wieder aufgefrischt, und obwohl der Himmel wolkenlos war, trug er den Duft eines fernen Regens in sich, der in unsere Richtung unterwegs war. Es war kein Mond zu sehen, und die Sterne wirkten über den Bergen wie vergrößert.
    Ich stieg die Stufen hinunter und ging auf die Parkbucht zu, in der ich meinen Wagen abgestellt hatte. Ich setzte mich in den VW, ließ den Motor an und bog hinaus auf die Straße, die in die Stadt zurückführte. Als ich die Kreuzung überquerte, war mir, als sähe ich eine Großraumlimousine in der Dunkelheit verschwinden.

EPILOG

    Roger Bonney wurde seit diesem Abend nicht mehr gesehen. Nur wenige Menschen sind sich im klaren darüber, was wirklich mit ihm geschehen ist. Ich habe lange Gespräche mit Lieutenant Dolan und Cheney Phillips geführt und — zumindest dieses eine Mal — die Wahrheit gesagt. Angesichts der Ungeheuerlichkeit dessen, was ich getan hatte, fand ich, daß ich die Verantwortung dafür übernehmen mußte. Nach reiflicher Überlegung entschieden sie schließlich, daß niemandem damit gedient wäre, wenn man die Angelegenheit weiter verfolgte. Sie ermittelten pro forma wie in einem Vermißtenfall, aber es kam nichts dabei heraus. Und dabei blieb es.
    Heute, mitten in der Nacht, denke ich über die Rolle nach, die ich in Lorna Keplers Geschichte gespielt habe, und bin dabei, diese Gespenster zur letzten Ruhe zu betten. Mord weckt in uns den archaischen Wunsch, mit gleicher Wucht
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