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Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht

Titel: Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
Autoren: Sue Grafton
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Emotion. Ich nahm den Wahrheitsgehalt dessen, was Cheney mir berichtet hatte, in mich auf, aber es löste keine entsprechende Gefühlsreaktion aus. Im Kopf glaubte ich es, aber mit dem Herzen konnte ich es nicht fassen. Vielleicht eine Minute lang blieb ich regungslos stehen, und als die Empfindungen schließlich langsam zurückkamen, fühlte ich nicht Trauer, sondern anschwellende Wut. Wie ein prähistorisches Wesen, das aus der Tiefe emporschnellt, brach meine Wut durch die Oberfläche, und ich schlug zu.
    Ich nahm den Telefonhörer ab, schob die Hand in die Tasche meiner Jeans und zog die Karte heraus, die ich in der Großraumlimousine erhalten hatte. Da stand die hastig notierte Nummer, eine magische Zahlenkombination, die den Tod bedeutete. Ich wählte, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was ich tat. Mich trieb der brennende Drang zu handeln, das blindwütige Bedürfnis, gegen den Mann vorzugehen, der mir diesen Schlag versetzt hatte.
    Nach dem zweiten Läuten wurde am anderen Ende der Hörer abgenommen. »Ja?«
    Ich sagte: »Roger Bonney hat Lorna Kepler umgebracht.«
    Ich legte auf. Dann setzte ich mich. Ich spürte, wie es in meinem Gesicht vor Hitze zuckte und mir einen Moment lang Tränen aus den Augen schossen.
    Ich ging ins Badezimmer und sah aus dem Fenster, aber die Straße gegenüber lag im Dunkeln. Ich ging zu meinem Schreibtisch zurück. O Gott. Was hatte ich getan? Ich nahm den Hörer ab und wählte die Nummer ein zweites Mal. Endloses Läuten. Keine Reaktion. Ich legte den Hörer wieder auf. Mir zitterten die Hände. Ich nahm meine Pistole aus der untersten Schublade und legte ein neues Magazin ein. Dann schob ich sie hinten in den Bund meiner Jeans und zog meine Jacke an. Ich packte Handtasche und Autoschlüssel, machte die Lichter aus und verschloß hinter mir die Tür.
    Ich fuhr auf der 101 in Richtung Colgate. Immer wieder sah ich in den Rückspiegel, aber die Limousine war nirgends in Sicht. Ich nahm die Abfahrt an der Little Pony Road und bog nach rechts ab. Dann fuhr ich am Volksfestplatz entlang, bis ich an die Kreuzung mit der State Street kam. An der Ampel blieb ich stehen, trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad und sah erneut in den Rückspiegel. An der Hauptdurchgangsstraße war nur ein einziger Farbfleck zu erkennen, und zwar mit roten Neonröhren geschriebene Worte, die am Drugstore prangten. SAV-ON stand auf dem Schild. Das Einkaufszentrum zu meiner Linken hielt offenbar einen exklusiven abendlichen Ausverkauf ab. Grelle Lichter durchbohrten den Himmel. Weiße Plastikfahnen hingen von zahlreichen Masten. An der Einfahrt zum Parkplatz bedeuteten ein Clown und zwei Pantomimen den vorbeifahrenden Autos, hineinzufahren. Die beiden weißgeschminkten Pantomimen begannen mit einem kurzen Zweipersonensketch. Ich konnte nicht ausmachen, welches Drama sie aufführten, aber der eine drehte sich um und sah mich an, als ich aus dem Lichtkegel herausfuhr. Ich wandte mich ebenfalls um, sah jedoch nichts weiter als den geschminkten Schmerz seines herabgezogenen Munds.
    Ich raste an der dunklen Tankstelle vorbei, deren Stellplätze und Zapfsäulen über Nacht geschlossen waren. Vermutlich aus einem Geschäft in der Nähe erklang eine Alarmanlage, doch war weder Polizei in Sicht noch herbeieilende Fußgänger, die nachsehen wollten, was los war. Wenn in dem Laden tatsächlich Einbrecher waren, konnten sie sich ruhig Zeit lassen. Wir sind alle so sehr an losjaulende Alarmanlagen gewöhnt, daß wir ihnen überhaupt keine Beachtung mehr schenken und annehmen, sie seien versehentlich ausgelöst worden und bedeuteten nichts. Sechs Häuserblocks weiter überquerte ich eine kleinere Kreuzung und fuhr die Straße hinauf, die zur Wasseraufbereitungsanlage führte.
    Die Gegend war fast unbewohnt. Gelegentlich sah ich zu meiner Rechten ein Haus, doch die Felder auf der anderen Straßenseite lagen brach und waren mit Steinen übersät. In der Ferne heulten und winselten Kojoten, die die Wassernot von den Bergen herabgetrieben hatte. Eigentlich war es noch zu früh am Tag für Raubtiere, doch dieses Rudel folgte seinen eigenen Gesetzen. Sie waren heute abend auf der Jagd, witterten Beute. Vor meinem geistigen Auge sah ich eine glücklose Kreatur in Todesangst über die Felder flitzen. Der Kojote tötet rasch, eine Gnade für sein Opfer, aber nur ein schwacher Trost.
    Ich fuhr in die Einfahrt der Wasseraufbereitungsanlage. Im Gebäude brannten Lichter, und davor standen vier Autos. Ich
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