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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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Gegend, dieses schaurige Haus verließen. Hannelores Lieblingsausspruch war: Meine Güte, fünf Bonbons in einer Tüte! Sie sang »Kauf mir einen bunten Luftballon« und hatte Tage, an denen sie sich nur mit »Frau Prinzessin« anreden ließ. Die Frauen im zweitenFrauensaal sagten, sie könnten Hannelores Husten nachts nicht mehr ertragen, aber die Oberschwester drohte dem Fräulein Doktor mit Kündigung für den Fall, daß sie das Kind in ein Einzelzimmer legen ließ.
    Als das Hannelorchen zu wimmern anfing, wenn Nelly ihm das Fieberthermometer einführte; als Nelly, so geübt sie inzwischen war, den Puls des Kindes nicht mehr finden konnte; als sie sein Gewicht kaum noch spürte, wenn sie es anhob, um das Laken unter ihm glattzuziehen; als seine Blutsenkung, die Nelly abzulesen gelernt hatte, die höchste im ganzen Haus blieb; als keine List, kein Bitten mehr einen Löffel Suppe hinter seine Zähne brachten: da wollte Nelly eines Tages nicht mehr zu ihm reingehen. Da blieb sie einfach im Bett liegen, als alle spazieren waren. Sie zog sich ihre dicke Strickjacke an, Handschuhe, legte ihr weißes Mäntelchen auf die Füße und las in Dantes »Göttlicher Komödie«. Die Oberschwester kam herein, Nelly las. Die Oberschwester zog die Decken zurecht, monierte, daß sie auf dem Kanonenöfchen schon wieder Brot geröstet hatten, fragte, ob es denn möglich sei, daß Elisabeth mit der Hühnerbrust neuerdings mit diesem schwerkranken Herrn Heller flanierte. Ja, ja, die Männerchen. Dann wollte sie gehen. Nelly rief ihr nach: Überhaupt, wie komme ich denn dazu! Die Oberschwester zog maßlos überrascht die Augenbrauen hoch, was ihr ein überaus törichtes Aussehen gab, und sagte: Das wisse sie allerdings auch nicht. Das müsse Nelly schon selber wissen.
    Nelly stand auf, heulend lief sie in den Waschraum, wusch sich die Tränen ab, heulte weiter, trocknete sich das Gesicht und ging zum Hannelorchen; das sagteschwach: Schon dacht ich, du kommst nicht mehr. – Meine Güte, Prinzessin, sagte Nelly. Drei Bonbons in einer Tüte! – Fünf, sagte das Hannelorchen. – In einer der nächsten Nächte starb es.
    Nelly betrieb ihre Entlassung. Sie aß jeden Nachmittag eine große Tasse von dem Sirup, den ihr der Vater, der sich selbst wieder ähnlich wurde, in einem Eimerchen gebracht hatte. Davon nahm sie zu, deformierte sich und vergrößerte ihre Aussichten, für entlassungsreif zu gelten. Anfang April sprach Doktor Brause das ersehnte Urteil, da ging sie weg, hundertfünfzig Pfund schwer. Eine zwiespältige, aber notwendige Leistung.
    Dies scheint das Ende zu sein. Alle Zettel sind von deinem Tisch verschwunden. Seltsam, daß es heute ist, der 2. Mai 1975. Der Tag, an dem von der Pappel alle braunen Blatthüllen auf einmal abgesprungen sind. (Der dritte Tag, nachdem in einem fernen Land, an einem anderen Punkt des Erdballs die endlos scheinende Kriegszeit von dreißig Jahren vorüber ist.)
    Die Julireise nach Polen ist fast vier Jahre her. Zwischen vier und fünf Uhr nachmittags kamt ihr zu Hause an. Lenka erklärte sich zufrieden, wieder »da« zu sein, als sie die Treppen hochging, während H. das Auto in die Garage fuhr, Bruder Lutz die Taschen hochtrug, du die Sonntagszeitungen aus dem Briefkasten nahmst und dir klarmachtest, daß eure Reise nicht länger als sechsundvierzig Stunden gedauert hatte. Du ahntest, wenn auch nicht in ihrer vollen Schärfe, die Bewegungen voraus, welche die Arbeit in dir hervorrufen würde.
    Je näher uns jemand steht, um so schwieriger scheint es zu sein, Abschließendes über ihn zu sagen, das ist bekannt. Das Kind, das in mir verkrochen war – ist es hervorgekommen?Oder hat es sich, aufgescheucht, ein tieferes, unzugänglicheres Versteck gesucht? Hat das Gedächtnis seine Schuldigkeit getan? Oder hat es sich dazu hergegeben, durch Irreführung zu beweisen, daß es unmöglich ist, der Todsünde dieser Zeit zu entgehen, die da heißt: sich nicht kennenlernen wollen?
    Und die Vergangenheit, die noch Sprachregelungen verfügen, die erste Person in eine zweite und dritte spalten konnte – ist ihre Vormacht gebrochen? Werden die Stimmen sich beruhigen?
    Ich weiß es nicht.
    Nachts werde ich – ob im Wachen, ob im Traum – den Umriß eines Menschen sehen, der sich in fließenden Übergängen unaufhörlich verwandelt, durch den andere Menschen, Erwachsene, Kinder, ungezwungen hindurchgehen. Ich werde mich kaum verwundern, daß dieser Umriß auch ein Tier sein mag, ein Baum, ein Haus sogar, in dem
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