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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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stumm vor Gier; als Nelly allein in dem verschlissenen Sessel in der Stube saß, da wares Tante Liesbeth, Liesbeth Radde, die hereinkam, nach ihr zu sehen. Gegen ihre Natur verzichtete sie auf größere Gesten, berührte sie leicht an der Schulter, sagte: Du wirst sehen, dein Vater wird wieder der alte. Den päppeln wir schon auf. Für diesen Augenblick hat Nelly der Tante eine untilgbare Dankbarkeit bewahrt.
    Nelly, noch nicht eingeweiht in die Sünden der Lieblosigkeit, beobachtet lieblos und über sich selbst entsetzt ihren Vater, der immer noch in Gefangenschaft, immer noch gefesselt ist von den Bedürfnissen seines Leibes. Nicht nur, daß er keinen Teller Essen abschlagen, auf keinen Brotkanten aus der Bauernküche verzichten kann – den Hunger eines Mannes, der neunzig Pfund wiegt, können die anderen, mögen sie dreist hungrig sein, sich nicht vorstellen – : Der Gesichtsausdruck, mit dem er die Suppe holen geht, den Kanten nimmt, verletzt Nelly so wie seine ängstlich-rechthaberische Art, um den Blechlöffel zu kämpfen, um die skurrile Blechschüssel, die Charlotte aus seinem Beutel fischte, um das Stück Steinzucker, in einen dreckigen Lappen gewickelt, um die Fetzen von Fußlappen.
    Nelly begreift es nicht, daß sie nicht mehr in Zeiten und an Orten lebt, wo der Dichter »Zeit« auf »Persönlichkeit« reimte und ein Ausrufezeichen hinter seine Anmaßung setzte. Nelly mißt ihren ums Haar verhungerten Vater mit falschem Maß.
    (Altern als der Zwang, sich selber nachzumachen. Dem abgeschmackten Hang zur Wiederholung nicht entrinnen, gegründet auf der Angst vor der Angst, die sich mit den Jahren ein immer tieferes Bett gräbt. Nicht der Besonnenheit entgehen, der die Bestechlichkeit auf dem Fuße folgt: So, denkst du, muß Lenka dich sehen,und hältst ihr gereizt ihre Fehler vor, die erschreckend genau das Gegenteil der deinen sind. Wieder geht sie weg und kommt nicht zur Zeit. Da bist du allein zu Haus. Ein Buch fällt dir in die Hände, das wie ein scharfer Griffel den Filz der Gewohnheit aufritzt. Da trittst du vor die Tür. Mondlicht und laue Luft, und im Gebüsch am Kanal singt die erste Nachtigall des Jahres. Die Bautätigkeit in ihrer Nähe hat sie nicht vertreiben können.
    Das banale Wunder, auf das du jeden Tag gewartet hast und das du hingerissen erkennst. Der Zauber, ohne den leben zu müssen schauerlich wäre.)
    Es war Nelly nicht unlieb, den Platz im Sanatorium zu bekommen, als es kälter wurde. Sie wollte unter die Leute, bei allen Anlässen. Ihre Neugier, das wußte sie schon, galt mehr den Tiefen als dem, was andere »Höhen des Lebens« nannten. Das war vielleicht die Ur-Sache hinter der merkwürdigen Bestätigung, die sie aus der Krankheit zog. (Sie hatte sich, vermittelt durch den Bazillus, eine Infektion zugezogen, die unheilbar war: Das geheime Wissen, daß man sterben muß, um geboren zu werden.)
    Daher mußte sie lachen, als das schöne weiße, moderne Krankenhaus in der Stadt (das Zweibettzimmer, in dem Ilsemarie schon auf sie wartete, als Überlegene, Eingeweihte, zu Haus in den Bräuchen und der Sprache der Lungenkranken) – als dieses Haus, kaum war sie eingezogen, binnen drei Tagen für ein sowjetisches Lazarett geräumt werden mußte. Die Resignation der Ärzte, die Panik der Schwestern, die leicht fiebrige Aufregung der Kranken erheiterten sie innerlich, während sie äußerlich mitspielte. Mitflatterte, mitlamentierte, mitstahl:ein vollständiges Besteck und ein dicke weiße Wolldecke. Von dem Besteck ist das Messer noch übrig, in dessen Griff die Initialen des Krankenhauses eingraviert sind. Mit seiner hauchdünnen, biegsamen, vorne leicht gekrümmten schartigen Schneide hat es jahrelang alles Brot und alle Wurst im Haus geschnitten. Die Decke wurde zu einem Dreiviertelmantel für Nelly verarbeitet, dem zum Vollmantel genau jenes Stück Kante fehlte, das man wegen der groß eingewebten, wiederum das Krankenhaus bezeichnenden Schrift hatte abschneiden müssen.
    Nelly und ihrer Mutter gingen jedes Verständnis für Zeiten ab, in denen man Wolldecken durch Webekanten für andere Zwecke verdirbt. Immerhin wäre sie ohne das kurze Mäntelchen – das sagen sie sich oft, auch später – nicht über den Winter in Winkelhorst gekommen, denn dieser Winter von 46 auf 47 war noch einmal unmäßig kalt, und Nelly sollte laut Anordnung des Doktors Brause aus Boltenhagen die tägliche Liegekur durch Spaziergänge im Freien ergänzen. Im Freien pfiff nun der Wind von der Ostsee her,
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