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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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Wirklich sehr verständig, für ihr Alter.
    Nelly spuckt in das blaue Schraubglas. Viel Fett essen wäre natürlich das allerbeste. Eine kleine Zusatzkarte werden Sie sogar bekommen. Auf dem Lande? Nun, das ist doch ausgezeichnet. Also: liegen, liegen, liegen. Ihre Schule wird von uns benachrichtigt.
    Vernünftig, sagen mitfühlend die Schwestern.
    Die Tbc-Beratungsstelle befindet sich heute noch in der gleichen Straße, im gleichen Haus wie damals. (Der gußeiserne Türgriff, den du versuchsweise anfaßt.) Ihre Inneneinrichtung wurde modernisiert. Nelly behält von ihrem Heimweg ein paar graue Hausmauern scharf im Gedächtnis. Mitte Mai bricht die Ausgabenliste im »Brief-Tagebuch« mit dem Betrag von 0,50 Rpf. für Leihbücher ab. Betäubt, nicht tapfer, macht Nellyam Nachmittag die letzten Schularbeiten, während sie das schnell wachsende Bedürfnis in den Schulterblättern spürt, sich endlich hinzulegen, das sie nicht mehr verlassen wird. Gefaßt – nimmt sie sich vor –, gefaßt und verständig wird sie sich am nächsten Tag von Maria verabschieden. Niemandem wird sie ihren Händedruck aufdrängen, niemandem ins Gesicht hauchen. Sie soll sich zurückziehen, das ist es, was der Zufall will. Die mütterlichen Schwestern hätten gestaunt über den Aufruhr in ihrem Innern, die Ablehnung des verfluchten Zufalls, das Selbstmitleid.
    Aber sie dachte nicht daran, an der Krankheit umzukommen, das war ihr nicht bestimmt. Daß ihre Mutter dieses geheime Wissen nicht mit ihr teilte, war ihre größte Sorge. Sie ließ sich, erwartungsgemäß von diesem neuen Schlag gefällt, neben dem Sandweg von der Bahnstation zum Dorf ins Gras sinken, schlug die Hände vor das Gesicht und brachte erst nach langer Zeit die Frage heraus, warum ihr auch das noch angetan werden müsse. (Die Kinder als des Schicksals Waffen gegen die Mütter, Nelly kannte diese Rolle und haßte sie gründlich.) Schon, als Frahms Haus in Sicht kam, hatte Charlotte die notwendigen praktischen Maßnahmen in ihrem Kopf fix und fertig.
    Es geschah alles, wie sie es bestimmte. Ein Feldbett wurde hinter der Fliederhecke in Frahms Apfelgarten aufgestellt, da lag Nelly die schönen Tage über. Die Mutter traf mit Frau Frahm, die ein mitfühlender Mensch war, ein Abkommen: Gegen die zwei der Mutter verbliebenen Goldarmbänder und Ringe lieferte die Bäuerin täglich ein Viertelliterchen saure Sahne, die Nelly nachmittags mit Zucker und eingebrocktem Schwarzbrotaß. Nelly, inmitten fleißiger Leute zu einem Drohnenleben verpflichtet, geriet nun endlich, die Bücher studierend, die Maria Kranhold ihr schickte (unter ihnen jenes kleine blaue Buch mit Goethe-Gedichten), an die Hand und in die Hände der Dichter. Sie sprach nicht darüber, doch manchmal dachte sie, daß sie eben dafür krank geworden war. (Die meisten Gedichtzeilen, die du auswendig kennst, hat Nelly in jenen Jahren in sich aufgenommen. »Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit / Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit.«)
    Mäander, »laufende Hunde«, die sich in den Schwanz beißen. Die rennenden Hunde der Gewissensfragen, die von den Dichtern scheinbar zum Stehen gebracht werden. Höchstes Glück der Erdenkinder sei stets die Persönlichkeit! Nelly glaubt übereinzustimmen. Sie fragt den KZler Ernst, ob es denn im KZ wirklich so schlimm gewesen ist. Ach Gott, sagt der, was heißt schlimm. Ordnung und Sauberkeit, das war oberstes Gesetz. – Man wußte nie, was der ernst meinte. Nicht jeder ist wie ich, sagte er. Ich bin durchgekommen, siehst es ja. Nelly folgt dem plötzlich aufgekommenen Bedürfnis, über die Gedanken Buch zu führen, die, abgelöst von dem, was sie für ihre Person hält, durch ihren Kopf laufen. Mäander. Nebeneinander stehen Herrn Ernsts Ausspruch über das KZ und ein Gedicht von Friedrich Hebbel: »Welt und Ich«. (»Im großen, ungeheuren Ozeane / Willst du, der Tropfen, dich in dich verschließen?«) – Sie sah nicht, daß sie komisch war. (Wann wird sie näher heranrücken? Wann werden du und sie im Ich zusammenfallen? Das Ende dieser Aufzeichnungen anzeigen?)
    Im August wurde das Stück gegeben: Die Heimkehrdes Vaters. (Die Post als Ankündigerin großer Schicksalswenden. Die erste schmutziggraue Karte aus einem Waldlager bei Minsk mit der Nachricht: »Ich lebe« hatte, fast ein Jahr zuvor, die Mutter an den Rand eines Zusammenbruchs gebracht. Diesmal nun das Telegramm mit seiner schlichten Mitteilung über Zeit und Ort der Ankunft von Bruno Jordan, dem
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