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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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Helene für »Mache« halten.
    Im Frühjahr fängt Ilsemarie entsetzlich zu husten an. Richtiger, ihr Dauerhusten, an den man sich gewöhnt hatte, tritt in ein neues, entsetzliches Stadium ein. Maria Kranhold rät ihr nachdrücklich, zum Arzt zu gehen. Ilsemarie zuckt die Achseln. Nelly begreift nicht, wieso ihr Blick – offenbar gegen ihren eigenen Willen – spöttisch wird. Sie hat braune Augen. Zu braunen Augen paßt kein spöttischer Blick. Etwas an Ilsemarie wird von Tag zu Tag aufreizender. Nelly und sie stecken ihre Köpfe über den Büchern zusammen. Manchmal hat Nelly sich ein Stückchen lateinischen Textes der Einfachheit halber aus dem Buch abgeschrieben, um ihn zu Hause zu übersetzen. Vedetis nos contenti esse. Certo vos dignitatis esse. Postulo ut diligentia sitis.
    Sie hat die Sätze in ein gelbbraunes Heft notiert, auf dessen Umschlag in schwarzer Schrift »Brief-Tagebuch« gedruckt ist und das sie, einer kleinen Einklebemarke zufolge, für 75 Pfennig bei W. Klee Nchfg., Inh. G. Schepker, in Hagenow in Mecklenburg gekauft haben muß. Die Mehrzahl der Seiten ist mit Rilke-Gedichten beschrieben. Dazwischen stehen kommentarlos Sätze von Maria Kranhold. Und auf den letzten Seiten rechnet sie über mehrere Monate hin ihr monatliches Budget von 100 Mark ab. Nicht alle Posten sind heute noch verständlich. Es ist schier unmöglich, daß sie im Januar des Jahres 1946 10 Mark 55 in die Leihbücherei getragen haben soll. Wahrscheinlich gab es eine Einschreibegebühr. Aber wo lag die Bücherei? Welche Bücherentlieh sich Nelly? Theater kostete 4 Reichsmark – welches Stück? –, ein Gang ins Kino 1,10 RM. Grundausgaben: 30 Mark Miete, Wochenendfahrt nach Bardikow 2,80 Mark. (Die Entlausungsbaracke auf dem Bahnhofsplatz. Die krabbelnden Finger der Schwester an Kopf und Nacken. Der kleine weiße Entlausungsschein, der zum Bezug der Fahrkarte erst berechtigte. Die kurze Fahrt in den zugigen, mit Brettern verschlagenen Eisenbahnwagen. Die Mutter, die an der Bahnstation auf sie wartet oder ihr durch den Wald entgegenkommt. Die schönste Stunde der Woche: Der Weg durch den Wald, der anfängt, grün zu werden.)
    Ein Arztbesuch hat sie im März 3 Mark gekostet: Hatte sie sich nicht auf der Bahn die Krätze an den Händen zugezogen? Aber welche Art Impfstoff verkaufte man für 70 Pfennig? Zahnpulver also war für 13 Pfennig zu haben, und einmal steht das seltene Wort Fleisch vor dem unverständlichen Betrag von 48 Pfennigen ... Nelly hat im Februar 5 Mark zum Friseur getragen, da hat sie sich ihr Haar abschneiden lassen, wollte wieder jung aussehen. Später kommt sie monatlich mit 2,75 Mark Friseurgeld aus. Hafermehl, aus dem sie jeden Abend ihre Wassersuppe kocht, kostet einen Groschen. Durch Stundengeben muß sie sich den merkwürdigen Betrag von 18,75 RM verdient haben: Welche Stunden? Wem gegeben?
    Keine Ahnung.
    Leider ist das Foto, für das sie 3 Mark bezahlt, nicht erhalten. Tischgespräche. Lenkas Klasse hat im Biologieunterricht über die Hungerkatastrophe diskutiert, die der Menschheit droht, hat Gegenmaßnahmen erwogen, von der Empfängnisverhütung bis zur totalen allgemeinenAbrüstung. Die beste Schülerin, die den sagenhaften Zensurendurchschnitt von 1,1 hält und in mehreren gesellschaftlichen Organisationen aktiv arbeitet, die trotz strengster Auswahl anstandslos zum Studium der Humanmedizin zugelassen ist – sie also gibt am Ende zu erwägen, ob man, vor die unlösbare Aufgabe gestellt, eine zu geringe Nahrungsmenge unter eine zu große Bevölkerung zu verteilen, nicht zuerst den Alten und unheilbar Kranken das Essen entziehen solle.
    Die Bestandteile der Ein-Gen-ein-Enzym-Hypothese wird Lenka vermutlich vergessen. Jene Stunde, in der eine Mitschülerin eine Selektion der Alten und Kranken für einen bevorzugten Hungertod ins Auge faßte, wird sie behalten. Moralisches Gedächtnis? Wie du aus Maria Kranholds Mathematikstunden nichts mehr weißt, dich aber genau jener Minute erinnerst, den Platz angeben könntest, da Nelly ihre Lehrerin weinend auf der Straße traf. Monate später schrieb ihr Maria Kranhold in die Lungenheilstätte den Grund für die Tränen: Sie hatte wieder keine Kartoffeln für ihre schwerkranke Mutter auftreiben können. Von dem Augenblick an, da die Lehrerin vor ihr geweint hat, nannte Nelly sie nie mehr »die Kranhold«, sondern immer »Maria«, und sie hörte sich an, was Maria Kranhold zum Stichwort »Diktatur« einfiel. Nelly erfuhr, sie habe zwölf Jahre lang, anscheinend
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