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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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Totgeglaubten: Grundvorgang jener Jahre).
    Der Tag war sehr heiß. Schnäuzchen-Oma weinte seit den frühen Morgenstunden bei jedem Anlaß. Nelly konnte keine Zeile lesen und wanderte im Haus umher. Tante Liesbeth, verschönt durch uneigennützige Mitfreude, buk einen Kartoffelkuchen. Nelly hatte sich in den letzten Jahren, wenn sie durch das Wegpusten einer Wimper einen Wunsch frei hatte, immer nur das eine gewünscht: Er soll zurückkommen. Nun kam er, und es wäre unsinnig gewesen, das nicht Freude zu nennen, was sie empfand.
    Er kam mit dem Fuhrwerk, das Werner Frahm, der Sohn des Bauern, für ihn angespannt hatte. Warum trat Nelly, als Irene Zabel durchs Haus rief: Sie kommen!, derartig zögernd aus der Giebeltür ins Freie? Der Auftritt, der ihnen bevorstand, mußte von durchdringender Peinlichkeit sein. Der Vater hätte im Dunkeln kommen sollen, unangemeldet und allein. Wenigstens hätte man den Menschenauflauf vor der Giebelseite verhindern sollen, und allermindestens den qualvollen Mißgriff, den die drei Mädchen sich leisteten – Irene und Margot Zabel nebst Hanni Frahm –, indem sie von Herrn Ernsts Giebelfenster aus zweistimmig »Kein schöner Land in dieser Zeit« sangen, zur Begrüßung des Heimkehrers.
    Denn mit dem Auftritt der Hauptfigur – mit dem Augenblick,da Nelly den »Vater« sah – kippte die Szene boshaft ab ins Aberwitzige. Merkwürdigerweise hatte Nelly es geahnt. Märchen bereiten uns von klein auf darauf vor: Der Held, der König, der Prinz, der Geliebte wird in der Fremde verwunschen; als ein Fremder kehrt er zurück. Kann sein, die Daheimgebliebenen bemerken die Verwandlung nicht, und ihm allein obliegt die schwere Aufgabe, sich ihnen als der andere, so nicht Geliebte zu offenbaren. Dem verwunschenen »Vater« hatte man ehrlicherweise in der Fremde eine von Grund auf andere Gestalt verliehen.
    Was da, gestützt von Werner Frahm und Charlotte Jordan, vom Wagen kletterte, war ein altes, verhutzeltes Männchen mit einem Bärtchen auf der Oberlippe, mit einer lächerlichen Nickelbrille, die hinter den Ohren von schmutzigen Leinenschlaufen gehalten wurde, mit einem kurzgeschorenen, eisgrauen runden Kopf, von dem die Ohren abstanden, angetan mit einer schlotternden Montur und zu großen, entsetzlich untauglichen Stiefeln. Wenn ein Fremder eintrifft, kann ja von Rückkehr keine Rede sein. Auch von Wiedersehensfreude nicht, höchstens von Verlegenheit und Mitleid. Von Erbarmen. Das aber ist es nicht, was die Siebzehnjährige für den heimkehrenden Vater empfinden will.
    In der Stille, die sich ausbreitete – nur aus dem Giebelfenster sangen sie beharrlich »Der Mond ist aufgegangen« –, puffte und schob man Nelly, zu tun, was ihre Tochterpflicht war: Dem Vater gegenüberzutreten, ihn zu umarmen, seine knochigen Schultern zu umfassen, sein zuckendes, unbekanntes Gesicht dicht vor sich zu sehen, die Zahnlücke in seinem Gebiß. Den säuerlichen Geruch einzuatmen, der von ihm ausging. (Seitdem vielleichtdiese Furcht vor der Erfüllung von Herzenswünschen, was natürlich deren Hemmungslosigkeit nicht mäßigt, eher steigert, nach einer undurchschaubaren Seelenalchimie).
    Die Mutter, Charlotte Jordan, war verstört. Sie wiederholte mit dem immer gleichen törichten Gesichtsausdruck, sie hätten einander nicht erkannt. Sie seien auf dem Bahnsteig mehrmals aneinander vorbeigelaufen: Erst jetzt – da sie kaum in Spiegel blickte –, erst an dem leeren Blick ihres Mannes, der durch sie durchging, erfuhr sie ihre eigene Verwandlung in eine Unkenntliche, zugleich mit der Einsicht, daß der, den sie erwartete, den sie den anderen als einen Besonderen beschrieben, dessen Bild sie herumgezeigt hatte: daß der nicht wiederkehren würde. Mit einem Schlag verlor sie sich selbst und den Mann. Nur wenn man diese Verluste im Auge behält, kann man ihr Verhalten in den nächsten Wochen begreifen. Sie war sechsundvierzig, er neunundvierzig Jahre alt. Bruno Jordan erhielt den Platz bei seiner Frau in dem breiten Bauernbett in der Bodenkammer, und es ist wahr, daß Nelly manchmal wach wurde von ungeduldigen, abweisenden Worten der Mutter und den enttäuschten, bitteren des Vaters.
    Tante Liesbeth als einzige war auf der Höhe des Augenblicks. Was Nelly nicht erwartet hätte: Sie hatte begriffen. Als alle um Bruno Jordan an Frahms Küchentisch herumstanden und schamlos zusahen, wie er mit einem verbogenen Blechlöffel, den er aus seinem schmutzigen Beutel gezogen hatte, Frau Frahms Suppe schlürfte, taub und
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