Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
Haar nicht hatte waschen können, worauf seine traurige Mutter Birkenhaarwasser brachte und ihm mit angefeuchteten Wattebäuschen die Kopfhaut abrieb. Als Fräulein Lembcke aus dem Eispalast in eines der Schwesternkrankenzimmer verlegt wurde, nahm Nelly die Gewohnheit an, ihr vor dem Abendbrot »Romeo und Julia auf dem Dorfe« von Gottfried Keller vorzulesen, bis die Oberschwester sie, taktlos, wie sie gewöhnlich war, auf den Gang hinausrief, um ihr in hörbarem Flüsterton den Umgang mit den Schwerkranken, Schweransteckenden zu verbieten. Auf diese Weise erfuhr Nelly, daß die Oberschwester sie nicht unter die rechnete, die sterben würden (merkwürdigerweise verbot sie Ilsemaries neuer Freundin Gabi, einem zarten, blassen Mädchen, dessen Röntgenbefund nicht der Rede wert war, niemals, in die Zimmer der Schwerkranken zu gehen, sogar dort zu singen), daß sie aber auch nicht jenen zuzuzählen war, die ungestraft Gott versuchen dürfen. Zwar besuchte Nelly Fräulein Lembcke weiterhin, nicht nur, weil die weinte über das Urteil der Oberschwester, das sie ganz richtig erriet, sondern weil siemit der Gefahr spielen wollte. Immerhin hielt sie sich näher bei der Tür und las kürzere Abschnitte, jetzt aus dem »Fähnlein der sieben Aufrechten«. Was in den Büchern stand, kam ihr wirklicher vor als ihr blasses, kaltes Leben in diesem Haus, unter diesen Leuten.
    Fräulein Lembcke blieb am Leben und versieht vielleicht heute noch ihren Posten als Versicherungsangestellte.
    Gabi starb.
    Hundertmal sang sie in den Krankensälen mit ihrer klaren, reinen Stimme »O mein Papa ist eine wunderschöne Clown« und »Das Karussell, das dreht sich immer rundherum«. »Drum steige ein«, sang sie, »und fahr mit mir, ich fahre einmal, zweimal, dreimal um das Glück mit dir.«
    Ihr Bett stand zwischen den Betten von Nelly und Ilsemarie. Nachts erzählte sie, wie sie und ihre feine, schlanke Mutter im Krieg die Nachricht bekommen hatten, daß ihr Vater, ein Oberleutnant, gefallen war. Wie sie aus einer pommerschen Kleinstadt hatten fliehen müssen, dann unterwegs irgendwo mit Typhus bei einer boshaften Wirtin gelegen hatten, die sie beschimpfte und ausplünderte. Wie ihre Mutter starb und sie nun auf der ganzen Welt keinen Menschen hatte außer einer alten Tante in Grevesmühlen.
    Doktor Brause, dem seine unheilbar Kranken sonst gleichgültig zu sein schienen, wurde grob zu Gabi, nach jeder neuen Durchleuchtung gröber. Dann entschloß er sich zum Pneumothorax, obwohl er, wie er aufgebracht sagte, an diesem Gerippe kaum die Stelle für den Einstich der Nadel finden konnte. Gabi, aufgepumpt, hatte zwei Tag lang Atemnot, dann sang sie wieder:»Mein Herz, das ist ein Bienenhaus.« Man konnte sie nun abends in einem der halbdunklen kalten Gänge mit einem rothaarigen Jungen namens Lothar stehen sehn, eine Tatsache, die entgegen den Gepflogenheiten des Hauses übersehen und ihr gegenüber niemals erwähnt wurde. Nur Fräulein Schnell, eine alte Jungfer, die sich morgens im Bett sitzend ihr Barthaar zupfte, hielt es für angebracht, ins Blaue hinein von der erprobten Treulosigkeit der Rothaarigen zu sprechen, wonach Gabi unter der Bettdecke weinte und Nelly und Ilsemarie ein langes, lautes und rücksichtsloses Gespräch über den Neid der Besitzlosen miteinander führten.
    Betroffen, aber nicht ernsthaft gefährdet sein – auch das kann zur Lebensformel werden. Nelly probierte sie aus. (In der dritten Person leben ...) Es kam ihr leicht vor, Distanz zu halten. Es sollte niemals mehr irgendeinem Menschen möglich sein, sie ernstlich zu treffen.
    Słubice. Hier sollte man doch, meintet ihr, irgendwo essen können. Langsam fahrt ihr durch verschiedene Straßen. Katzenkopfpflaster, zu Kugeln geschnittene Weiden. Vergebliche Suche nach einem Lokal. Also doch weiter zur Grenze. Die Oder in der Hitze des hohen Mittags, gleißend. Auf beiden Seiten schnelle Abfertigung. Du blickst aus dem Seitenfenster, während eure Ausweise von dem DDR-Grenzsoldaten kontrolliert werden. Aus einem Nest in der Dachrinne des Grenzerhauses ist ihm ein junger nackter Vogel vor die Füße gefallen. Er lebt noch. Der Grenzer schiebt ihn mit dem Stiefel beiseite. Du sagst: Sie sind aber roh. Er fragt: Soll ich mich vielleicht auch noch um jeden toten Vogel kümmern? Soll ich vielleicht meineMütze darunterhalten, damit keiner aus dem Nest fällt?
    Da hat er recht, das kann er nicht.
    Im Interhotel von Frankfurt (Oder) bringt man euch ein vorzügliches Essen, wenn ihr
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher