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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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auch lange darauf warten müßt, weil eine westliche Reisegesellschaft fast das ganze Lokal besetzt hat und alle Kellner in Anspruch nimmt. Ihr könnt die Sprache der teuer und papageienhaft gekleideten, meist älteren Leute nicht ausmachen. Portugiesen, sagt die Kellnerin verächtlich. Geben an wie Graf Koks. – Die Männer haben schwere Augenlider und schlaffe Züge, die Frauen grell geschminkte, scharfe, gereizte Gesichter. Viel Gold an Händen und Hals.
    Ob die sich selber schön finden, fragt sich Lenka. Ihr Onkel, Bruder Lutz, gibt ihr den guten Rat, die seltene Gelegenheit zu nutzten und sich lebende Exemplare einer herrschenden bürgerlichen Klasse anzugucken. – Das gibt mir nichts, sagte Lenka. – Heute, keine vier Jahre später, werden die Ergebnisse der ersten Wahlen nach der Niederschlagung des Faschismus in Portugal kommentiert.
    Die Toten in Winkelhorst wurden in eine kleine Kapelle im Schloßpark gebracht. Es gab immer Patienten, die darüber wachten, daß die Leichen mit den Füßen zuerst aus dem Haus getragen wurden, damit sie nicht gleich den nächsten nach sich zögen. Es gab immer welche, die Wetten darüber abschlossen, daß sie um Mitternacht in die Kapelle schleichen und den Toten an den Füßen berühren würden; es gab solche, die die Erfüllung der Bedingungen kontrollierten, und andere, die dem Gewinner der Wette fünf Mark zahlten. Als Frau Hübner, die Mutter von Klaus und Marianne, gestorbenwar (auf deren Wangen Nelly die berüchtigten Totenrosen hatte aufblühen und vergehen sehen), verhinderte Herr Manchen, ein älterer Ostpreuße, durch seine Autorität im Männersaal allerdings jede Wette. Dafür klopfte es in den drei Nächten, in denen die Tote noch über der Erde war, an das im ersten Stockwerk gelegene Fenster des Männersaals »Andreas Hofer«, in dem zwischen Herrn Manchen und Herrn Löbsack auch der zehnjährige Klaus schlief. Und in der letzten Nacht tat es drei schwere Schläge an des Jungen Bett, so daß alle aus dem Schlaf fuhren. Jetzt hat sich deine Mutter von dir verabschiedet, sagte Herr Manchen da.
    (Unverkennbar: Dieses Mädchen, das immer noch Nelly heißt, entfernt sich, anstatt allmählich näher heranzukommen. Du fragst dich, was geschehen muß – was geschah –, sie zur Umkehr zu bewegen. Sie kann jetzt in der ungeheuren Kälte auf der großen weißen Schneefläche unter der riesigen Eiche stehen, hinaufstarren in das mächtige Astwerk, denken, im Sommer – wo immer sie dann sein mochte – wolle sie sich dieses Baumes erinnern, und dabei gleichzeitig auf der Haupttreppe sein – genau da, wo neulich jene Wahnsinnige stand, die sich alle zehn Sekunden an den Kopf greifen mußte – und sich unter der Eiche stehen sehn, wissen, was sie denkt, und sich im Sommer an die fällige Erinnerung erinnern wollen.)
    August. August aus der Nähe von Pilkallen. Eines Tages teilte er Nelly mit, er habe sie sich als Beschützerin ausgesucht. Er war zehn Jahre alt, ein plumper, vierschrötiger, schwerfälliger Junge. Der Ausdruck seiner braunen Augen – »Hundeaugen« – machte den anderen Kindern und den Erwachsenen Lust, ihn zu quälen.Seine Briefe (die ältesten, die du aufbewahrst). »Jetzt ist keiner mehr da, dem ich das Besteck abwaschen kann«, schreibt er nach ihrer Entlassung. Die Orthographie der Briefe beweist, daß Nellys Versuche, ihn lesen, schreiben und rechnen zu lehren, jämmerlich gescheitert waren. Seine tapsige, zudringliche Werbung, seine Eifersucht auf die anderen, hübscheren, klügeren Kinder.
    »Wenn ich erst meine Tanten gefunden habe und wenn ich erst bei ihnen bin und wenn ich erst groß bin und Schneider bin, dann näh ich dir einen warmen Mantel, und den schick ich dir, damit du immer an deinen lieben August denkst.« (1947 meldeten sich seine Tanten aus dem Westen, August fuhr zu ihnen, er müßte jetzt vierzig Jahre sein. Vielleicht ist es ihm geglückt, Schneider zu werden.)
    (Du träumst ein einziges Wort: Panzerung. Dazu siehst du beim Erwachen eine Statue, deren goldschimmernde Oberfläche von Rissen durchzogen wird. Der lebendige Körper unter dem Panzer und das Gesicht werden nicht sichtbar.)
    »Hannelore ist nun auch schon lange tot, und auch Herr Löbsack und die Oma Radom, und meine Blutsenkung ist wieder schlechter geworden, und ich habe in einer Woche 500 Gramm abgenommen, aber mein Sputum ist negativ.«
    Hannelore war das kleine fünfjährige Mädchen, das Nelly pflegte, als die Schwestern nacheinander diese entlegene
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