Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
die, nur wenige Kilometer entfernt, von den Patienten niemals gesichtet wurde. Dagegen sahen sie an bestimmten klaren Abenden über den Dassower See hin die Lichter von Lübeck, wenn sie sich auf einen bestimmten Hügel hinter dem Schloßpark stellten.
    Nelly ging oft auf diesen Hügel, aber du hast vergessen, nach ihm zu suchen, als du wieder nach Winkelhorst kamst. Zuerst irrtest du auf einem falschen Grundstück umher, nahe beim Dorf gelegen (wo in deiner Erinnerung das Schloß lag), wolltest dir einreden, am richtigen Platz zu sein, verknipstest einen halbenFilm gegen deinen Zweifel, bis zwei alte Männer auf der Straße euch über den Irrtum aufklärten, den Weg zum Schloß wiesen, das ja zwei Kilometer vom Ort entfernt liegt und heute ein Pflegeheim für Geisteskranke ist. Es war unbegreiflich, wie du das vergessen, die beiden Gebäude hattest miteinander verwechseln können. Allein die wunderbaren uralten Bäume auf den Rasenflächen beim Schloß hätten sich unvergeßlich in die Erinnerung eingraben müssen. (Allerdings hat Nelly, die von Oktober bis April hier war, sie niemals belaubt gesehen.) Langsam gingt ihr um das Schloß herum. Es war ein trüber, nebliger Tag, nicht kalt. Auf dem Podest der Eingangstreppe, die von der Seite her ins Haus führt, saßen Patienten mit Schwestern. An einen Pfeiler gelehnt ein junges Mädchen, das sich in regelmäßigen Zehnsekundenabständen mit einer verzweifelten Gebärde an den Kopf griff, unentwegt, Hunderte von Malen an jedem Tag.
    Der Park, in einem ungesunden Sumpfgebiet gelegen, vermodert. Schon damals waren sich alle einig, daß Lungenkranke hier nichts zu suchen hatten. Genußvoll besprachen sie ihre ungute Lage auf langen Spaziergängen. Nelly ging mit den Mädchen aus ihrem Zimmer oder mit Herrn Löbsack, der mit ihr regelrechte Verabredungen traf. Sie, die wußte, daß er ein spöttischer, kalter, dazu unschöner Mensch war – und schwerkrank, schwer ansteckend, wie die Oberschwester ihr warnend mitteilte –, sie ging gewissenhaft zu den Treffpunkten, empfand gewissenhaft eine kleine Aufregung, wenn sie sich im Haus begegneten, wenn er ihr im Speisesaal über den Tisch ein Zeichen gab, eine kleine Beschämung, wenn er sie warten ließ, aber keine Freude,neben ihm zu gehen, anderen Paaren am modrigen Schloßteich zu begegnen, kein Bedürfnis, seine roten Hände mit den starken Handgelenksknochen zu berühren oder von seinen aufgeworfenen, meist spöttisch verzerrten Lippen berührt zu werden. Sie sah von der Seite seinen Adamsapfel arbeiten, wenn er sprach, und sie wußte, daß er genausowenig Lust hatte, ihr Haar oder ihr Gesicht anzufassen. Sie trafen sich in dem unausgesprochenen Einverständnis, daß es nicht darauf ankam und daß ihnen die Vorspiegelung von Lust und Liebe vorläufig zu genügen hatte. Daß die einzige Lust, die ihnen freistand, die Hingabe an ihre gefährliche Schein-Existenz war. Nelly spürte den Sog der Verführung und sah keinen Grund, ihm zu widerstehen.
    Knirschende, bittere, allmählich durch Mark und Bein gehende Kälte, die von außen und innen kam und die Kranken spöttisch und gleichgültig machte, anfällig für hastige, unstabile Verbindungen. Jaja, die Männerchen, sagte die Oberschwester zu den Frauen in dem großen Eckzimmer, das sie »Eispalast« tauften, weil die Temperatur nie über null Grad stieg.
    Die Oberschwester, eine rundliche, strenge Person, ein Drachen, aber der Wahrheit meist ziemlich nahe, wußte, wer gesund werden und wer sterben würde, eher und genauer als die beiden Ärzte – eben jener wöchentlich einmal aus Boltenhagen herüberkommende Röntgenarzt Doktor Brause, den seine Ohnmacht grämlich gemacht hatte, und das Fräulein Doktor, eine Jungsche, Langhaarige, die zuviel vom Leben versäumt hatte, sich abends ein paar Kollegen aus den Dörfern einlud, zum Trinken und Singen (Orgien, sagte die Oberschwester; das nenne ich Orgien), die im Morgengrauen über dasBalkongeländer kotzte und am nächsten Morgen mit verquollenen Augen zur Visite kam.
    Das Beste wäre, Sie nähmen zu, sagte Doktor Brause, und dann lachte er höhnisch wie über einen obszönen Witz. Hin und wieder legte er allerdings einen Pneumothorax an, dem blonden Fräulein Lembcke zum Beispiel, das Kavernen und Streuungen im linken Lungenflügel hatte und nach mehreren Blutstürzen schwer bettlägrig war, heiser sprach, was hierorts übel vermerkt wurde, aber am meisten darunter litt, daß es nun schon monatelang sein schönes blondes
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher