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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster
Autoren: Christa Wolf
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ohne es zu merken, in einer »Diktatur« gelebt.
    Die Stadt Phnom Penh ist »gefallen« – so nennen es die anderen. Wir sagen: »eingenommen«, »befreit« und machen uns kaum noch klar, daß es von Zufällen abhing, die sich vor dreißig oder fünfundzwanzig Jahren ereigneten – Verwandtschaft westlich der Elbe zum Beispiel,die Nellys Familie vollkommen abging –, im Bereich welcher Sprache man blieb und dann heimisch wurde. Dreißigster Jahrestag der Befreiung. Ohne Anführungsstriche. Anführungsstriche würden den Satz zweihundert Kilometer weiter nach Westen rücken. Die Schulen des Industriegebietes, das drei Gemeinden umfaßt, mit roten und blauen Fahnen zum Stadion. Abordnungen der Volksarmee und der sowjetischen Streitkräfte in Ausgehuniform. Schalmeienkapellen. (»Von all unsern Kameraden / War keiner so lieb und so gut / Wie unser kleiner Trompeter, / Ein lustiges Rotgardistenblut.«) Redefetzen vom nahen Versammlungsplatz her, russisch und deutsch. Vorgefertigte Satzteile aneinandergefügt. Lautsprechermusik, überlaut. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde« als Gesang.
    Vor der Tribüne mit den zwei Singegruppen seid ihr auf dem kleinen viereckigen Platz beinah die Ältesten. Niemanden sonst scheint es zu stören, daß der linke Lautsprecher den Ton unerträglich verzerrt. Junge Leute in Gruppen. Kutten, Jeans. Vereinzelt bei den Mädchen die neuen Strickhütchen mit dem gewellten Rand. Volksarmisten und sowjetische Soldaten in getrennten Grüppchen. An einer Stelle Annäherung: gemeinschaftliches Betrachten von Bildkarten. Ein rühriger blonder junger Sowjetsoldat arrangiert Gruppenbilder, fotografiert. Sowjetische Soldaten mit Volksarmisten, gemischte Reihen, hintere Reihe eingehakt, vordere Reihe knieend. Drei sowjetische Flieger, die eben auf den Platz gekommen sind, stellen sich beim zweiten Foto schnell und wortlos dazu. Die Singegruppe der Erweiterten Oberschule singt vom Herrn Pastor sin Kauh. An den Bockwurstständen herrscht Andrang. Die Feuerwehrist angerückt, um das Lagerfeuer zu bewachen, dessen Holz schon aufgeschichtet ist. Die Sonne, rot, im Untergehn, hinter dem lichten Birkenwäldchen.
    21. April 1975. Zum dreißigstenmal jährt sich der Vorabend der Befreiung dieser Orte des Kreises Potsdam. Ein Veteran mit schlohweißem Haar und Ordensspangen auf der Brust hinkt, glücklich lächelnd, zum Rand des Platzes, wo bei einem Wartburg die Mitglieder der Ortsparteileitung stehen. Zwei Mädchen, die eine blond, die andere schwarz, mit hochtoupiertem Haar und Lacklederjacken, sind von sowjetischen Soldaten umringt, reden lebhaft mit einem jungen Offizier, russisch und deutsch. Nebenan auf dem Asphaltplatz bereitet die Band ihren Auftritt vor. Der Jugendtanz beginnt um sieben. Lenka sagt, sie wird dann mal rübergucken, wenn auch die Musik sicher zum Schuheausziehn sein wird.
    Ganz schöner Nachmittag, sagst du zu H. Ja, sagt er, ganz schön eigentlich.
    Ilsemarie aus Breslau war doch zum Arzt gegangen. Sie würde nun lange krank sein. Eine verhärmte Mutter erscheint in der Schule und spricht im Flur mit Maria, man sieht sie weinen. Eine Woche später zeigt das Gesundheitswesen an, daß es zu funktionieren beginnt: Die ganze Klasse ist zur Röntgenuntersuchung aufgefordert. Nelly ohne Vorgefühl zum erstenmal hinter dem Apparat, vor dem sie später Angst haben wird. Nach drei Tagen die Karte mit der Aufforderung, sich noch einmal vorzustellen. Ein älterer Röntgenarzt mit Goldrandbrille und welligem grauem Haar, der ihre Oberarme hält, sie hinter der Röntgenscheibe dreht und wendet, die Arme seitlich über den Kopf hebenläßt, ausatmen. Licht an. Sie können vorkommen.
    Tja. Wie alt sind Sie? Siebzehn? (Zwei mütterliche Schwestern, die den Chor bilden: Dafür ist sie aber wirklich tapfer! – Wieder dieses Mißverständnis: Betäubt ist nicht tapfer.) Folgt eine Aufklärung, wie hochgradig ansteckend ihre Freundin Ilsemarie gewesen sei, die sich jetzt schon in einer Lungenheilstätte befinde. Ihr eigener Befund nun, »Fräulein Jordan«: Der erste Verdacht habe sich leider bestätigt. Es wäre freilich auch ein Wunder gewesen, wenn sie sich nicht angesteckt hätte, bei dem Ernährungszustand, bei der Nähe des Kontakts. Ein Infiltrat also, was das ist, erkläre ich Ihnen gleich. Einmarkstückgroß übrigens. Kirschkerngroß wäre uns lieber, aber andererseits hätte es ja auch eine Kaverne sein können, nicht wahr. Günstige Heilungsaussichten, durchaus.
    Und wieder die Schwestern:
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