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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Autoren: Richard Lorenz
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Vorhänge, weggebrachte Stühle, auf denen niemand mehr saß. Aufgeklappte Bücher auf Betten, Comic-Hefte in den Verstecken, die nur noch die Mäuse kannten. Der Gummireifen an dem großen Baum hinter den Häusern stillstehend. Roberts Mutter, die nicht mehr schrie, als würde sie gleich sterben. Der Knochenjunge sah sie auf der Veranda sitzen, als wäre sie nie krank gewesen. Saras Vater, der still in der Einfahrt stand, rauchte und über etwas nachzudenken schien. Sein Blick in die Ferne gerichtet, als würde er etwas suchen, aber nicht wissen, was. Im Garten seine Frau, die ihm zurief: »Sind heute mit der Post gekommen, neue Schuhe – sind sie nicht wunderbar?«.
    Herbstlaubgeschichten, die niemand mehr erzählte, weil sich niemand mehr daran erinnern würde. Fahrräder, die zu lange im Regen gestanden hatten, die Reifen platt und Rost an den Felgen. Dort Alfons Eltern in dem neuen Auto, von dem sie schon so lange gesprochen hatten. In ihrem Garten ein Herbstfeuer aus Kinderbüchern, die sie im oberen Zimmer gefunden hatten und nicht mehr wussten, wann und warum sie sie gekauft hatten. Funken stoben empor in den kalten blassen Himmel.
    Der erste Schnee der Allerheiligennacht war längst wieder verschwunden, und erst in zwei Wochen sollte neuer fallen. Regenpfützen, in denen sich Kindergesichter spiegelten, die den Erwachsenen fremd waren. Der Nachhall von merkwürdigen Träumen, von denen sie aufschreckten und sie sogleich vergaßen. Dazwischen der Junge, den sie alle den Knochenjungen nannten, weil er so schrecklich dürr war, und der, sobald die Nacht alles dunkel färbte, seine Augen schloss und von den vergessenen Kindern träumte. Von einer Nacht zum anderen Morgen war Christoph erwachsen geworden. Seine Eltern alte Menschen, die er nicht mehr erkannte, als sie am Küchentisch saßen und ihn fragend ansahen. Die Worte
Wer bist du?
auf den Lippen, Worte, die niemals ausgesprochen wurden. Viel zu groß geworden für das kleine Zimmer unter dem Dach, verließ er an einem Montag Morgen das Haus und kam nicht wieder. Schon als er auf der Straße war, schien es gerade so, als hätte er niemals Eltern gehabt. Ein achtzehnjähriges Waisenkind, das in dieser Stadt aufgewacht war und sich nun wieder schlafen legte, um von seinen toten Freunden zu träumen.
    Merkwürdigerweise stand das kleine Haus auf dem Löwenzahlfeld immer noch leer. Christoph hatte an jenem Morgen unter der Fußmatte nachgesehen und einen Schlüssel gefunden. Früher war der rote Anstrich frisch und kräftig gewesen; jetzt blätterte die Farbe an einigen Stellen ab, Regen und Schnee hatten das Holz aufgerissen, das Fensterglas stumpf gemacht.
    Sara hatte es gemocht, auf den Holztreppen zu sitzen, weil von dort aus der Blick über das Feld der beste war. Sie hatten nie jemanden hier gesehen, und immer wenn sie hier waren, hatten sie durch das Fenster geschaut. Ein kleiner Tisch, einige Stühle, ein Regal mit Büchern, zwei Türen, die noch zu anderen, verborgenen Räumen führten. An der großen Wand, die sie durch das Fenster sehen konnten, wie eine Leinwand im Kino, hingen zwei Bilder. Beide zeigten das Kinderland im Winter und im Herbst, dunkle Kohlestriche. Geradeso, als hätte jemand jene Gegend weg streichen wollen.
    Hier würde ich gern wohnen. Immer.
Saras Stimme, die nur er hören konnte.
    Das rote Haus hatte drei kleine Zimmer. Als Christoph das erste betrat, roch er späte Sommertage und frühe Herbstnächte . Dort ein Schreibtisch, den einst ein Kind besessen hatte , Tuscheflecken und eingekratzte Buchstaben. In den Regalen Bücher. »Der Wind in den Weiden«, die illustrierten Blätter wellig, als hätte sie alleine der Regen betrachtet. »Peter Pan« mit losen Seiten, die beim Öffnen herausfielen. Das Schlafzimmer ein kleiner Ort mit einer Matratze am Boden, bemalte Flaschen, die von der Schule mit nach Hause gebracht worden waren, vorsichtig auf das helle Holz der Fensterbank gestellt. An der Decke Kinderzeichnungen und Wunschzettel, die den unruhigen Schlaf bewachten.
    Wie ein Museum, dachte Christoph. Wie ein Museum für Kinder, die man schlicht und einfach vergessen hatte.
    Das kleinste Zimmer war so vollgestopft, dass sein nunmehr erwachsener Körper kaum Platz darin fand. Bis zur Decke stapelten sich feste Pappkartons, auf dessen Seite er lesen konnte:
Murrs beste Virginia Zigaretten
. Natürlich waren keine Zigaretten darin. Sondern Milchzähne, Armbänder, Haarspangen, Schnürsenkel, Buchseiten, Kerzenstumpen,
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