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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Autoren: Richard Lorenz
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Zog sie heraus, ebenso wie eine Packung Zigaretten, von denen er sich eine anzündete. Dann sah er sich die Sammelkarten an. Eine Hexe auf einem Besen, durch die mondlose Nacht reitend. Als er selbst noch ein Kind gewesen war, und die anderen Kinder in der Stadt verloren gingen – außer jenen, die heute erwachsen und stumm an den Straßenecken standen, um das Unheil wachsen zu sehen – , hatte er die Sammelkarten geliebt. Natürlich hatte er sie alle besessen; Sporthelden und Automobile, Marsmenschen und wilde Tiere. Eingerissene und vergilbte Kinderwahrheiten, die in seinem Schreibtisch darauf warteten, wieder betrachtet zu werden.
    Er drehte eine der Hexenkarten um und las, was er mit feinen Buchstaben darauf geschrieben hatte, auf insgesamt dreiunddreißig Karten, die er in Schuhen, in Mauerschlitzen, in Dachrinnen, in Katzenmäulern verstecken wollte:
     
    Flieht.
    Ihr wisst warum.
    Kein Zögern.
    Seid leise.
    Kommt zur Kirche.
    Heute Nacht!
     
    Schweigend, mit sanften Schritten, würde er sie aus der Stadt bringen, weg von hier. Vorbei an der Friedhofsmauer, an den dunklen Gärten, vorbei an den Schlafenden. In Züge setzen mit genügend Geld in den Taschen, um an einem fremden, besseren Ort neu beginnen zu können. Er selbst würde zurückkehren müssen. Murr hatte Bekannte in München gefragt, gute und gütige Menschen, ob sie einige der Kinder aufnehmen würden, versteckt in den großen Häusern, und sie hatten ihm Hoffnung gemacht, dass man alle Dinge des Lebens, selbst die schrecklichsten, wenden konnte.
    Doch dann kam alles anders.

Eine Nacht vor Allerheiligen
Herbst 1973
    »Heute Nacht«, sagte Sara.
    Alle blickten zum alten Haus auf der Anhöhe. Der Mond spiegelte sich in den großen Fenstern, das leise Rascheln der Bäume drang zu ihnen hinunter. In einigen Häusern brannte noch Licht, vergessene Glühbirnen, die Leben vorgaukelten. Klappernde Gartentore, umgefallene Blumentöpfe. Ein schlafloser, fast blinder Hund knurrte.
    »Mein Vater hat gesagt, also ich habe gehört, wie er es gesagt hat, er sei immer noch oben«, sagte Alfons leise und wagte kaum hochzusehen. Schon immer hatte er Angst vor dem Haus gehabt. Von seinem Zimmer aus konnte er es sehen, und manchmal träumte er sogar davon. Manchmal, aber das hatte er nie jemandem erzählt, drang das Flüstern des toten Mädchens bis in sein Zimmer.
    »Wenn er noch oben ist, dann finden wir auch die Karte. Wir brauchen sie.«
    Robert spielte mit einem Kieselstein, ließ ihn wie ein Zauberkünstler zwischen den Fingern herumwandern, warf ihn in die Luft, fing ihn wieder auf.
    »Mir ist nicht wohl dabei, überhaupt nicht«, sagte Alfons. Er berührte das Buch in seiner Jackentasche. Sein Lieblingsbuch, »Moby Dick«, eine zerschundene Taschenbuchausgabe mit eingerissenem Einband.
    Niemand sagte etwas. Kalter Herbstwind strich durch ihre Haare und durch ihre Knochen. Ließ sie frösteln und wünschen, wieder nach Hause zu gehen. Jenes Zuhause, von dem sie sich weggeschlichen hatten, Kissen unter die Bettlaken gesteckt, irgendwo ein Fenster angelehnt.
    »Mein Vater bringt mich um, wenn er erfährt, dass ich noch draußen bin«, sagte Alfons.
    Es war kurz vor Mitternacht. Sie standen eng beieinander, zwischen den Straßenlaternen, einen Katzensprung entfernt von Tante Winnie.
    »Meiner auch. Der hat mich fast erschlagen, als ich letzte Woche zu spät nach Hause gekommen bin«, flüsterte Christoph.
    »Dann kennt ihr meine Mutter nicht«, sagte Robert und versuchte zu lächeln. Sara legte ihren Arm um ihn. Er roch ihre warme Haut und ihre Haare, ein Hauch von Blütenduft.
    »Robert!«, rief Christoph in strengem Ton der Mutter und meinte:
Komm nach Hause, sonst setzt es was.
    »Arschloch!« Robert setzte zum Hieb an und boxte in die Luft.
    »Aber wir müssen raufgehen. Sonst ist alles verloren. Für immer.« Sara holte ihr Tagebuch heraus und gab jedem Einzelnen ein zusammengefaltetes Stück Papier, auf dem sein Name geschrieben stand. »Vielleicht bringt es Glück, ihr wisst schon.«
    »Was ist das?«, fragte Alfons.
    »Ein Gedicht. Jeder bekommt eine Zeile«. Sara versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht so recht. Ihre Augen hell und das Blau darin so klar, als würden es leuchten. Sie hatte es am Morgen geschrieben, als sie von ihrem Zimmer aus runtergesehen hatte zu ihrem Vater.
Ein jeder Mensch muss etwas haben, das nur ihm alleine gehört
.
    »Aber ihr macht es erst auf, wenn wir wieder zurück sind, ja?«
    Allesamt nickten, schoben die
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