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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Autoren: Richard Lorenz
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kleinen Zettel in ihre Hosentaschen, Alfons zwischen die Seiten von »Moby Dick«.
    Dann gingen sie los, während die Hunde heulten und die Katzen schwiegen. Während die Lichter in Hausfluren verloschen und auf Dachfirsten Antennengebilde knarrten, als wollten sie davonfliegen.
    Sturm lag in der Luft, eisiger Regen benetzte ihre Gesichter und Hände. Der Himmel über ihnen so verhangen, dass er nahe erschien, viel zu nahe, um wirklich zu sein. Robert streckte seine Hand empor, und für einen Augenblick glaubte er tatsächlich, Wolkenschleier zu ertasten. Blickte zurück und sah, wie die Häuser dort unten langsam verschwanden.
    Ein leises Flüstern.
    Ein Raunen.
    Aus dunklen Ecken, aus finsteren Winkeln.

    Man hatte Murr bei den Bachläufen entdeckt, am späten Abend, als die Gewitter längst über die Stadt gezogen waren und aufgeladene Luft zurückgelassen hatten. Das Gesicht nach oben, die dunklen kurzen Haare regennass, die Augen aufgerissen, lag er da, als hätte man ihn im Schlaf gestört. Der Leichenwäscher Frank Stettler hatte ihn gefunden. Er war auf dem Weg zum Friedhof, um nachzusehen, ob der Regen die alten Grabsteine hatte weiter einsinken lassen. Dann würden sie umfallen und er bekäme eine Menge Ärger. Die Witwen würden kopfschüttelnd über ihn lästern.
    Natürlich kannte er den alten Murr, denn schließlich arbeitete Frank in den Sommermonaten, wenn die Leute nicht sterben wollten, in seiner Fabrik als Hausmeister. Wechselte Glühbirnen aus, fegte abends in der große n Halle die Tabakreste am Boden zusammen, sah nach, ob alle Fenster und Türen geschlossen waren, sammelte die aussortierten Zigaretten ein, um sie vor dem Schlafengehen zu rauchen. Er hatte diesen seltsamen Mann immer gemocht, denn er erinnerte ihn an seinen Bruder, der als Kind in einem alten Getreidesilo erstickt war. Die Erinnerungen an seinen Bruder waren verschwommen, vage und bleich, und manchmal wachte Frank auf und wusste nicht einmal mehr, ob er einen Bruder gehabt hatte. Mit den Erinnerungen war es in dieser Stadt eine sehr merkwürdige Angelegenheit, fand Frank. Zerrissene Fetzen seiner Kindheit, Bruchstücke, übertüncht mit dunklen Farben. Murr aber war immer anders gewesen, anders als sie alle hier, er schien von allen Erinnerungen zu wissen, selbst von jenen, die längst vergessen in den Teichen des Schlafes versunken waren.
    Manchmal stand Frank an einem der alten verwitterten Grabsteine, und der Name darauf schien ihm fremd, und immer dann wünschte er sich, Murr danach zu fragen. Aber er hatte es nie getan, denn er fürchtete sich davor. Fürchtete sich vor den vielen Namen, die er vergessen hatte.
    Frank hatte hinunter geblickt zu den Bachläufen, die zu dieser Jahreszeit noch unheimlicher waren als sonst, und ihn dort liegen sehen. Für einen kurzen Moment hatte er angenommen, der Mann würde sich jeden Moment aufrappeln, den Schmutz von seinen Hosen klopfen und davongehen. Aber je näher Frank heran gekommen war, desto deutlicher wurde das bleiche Gesicht mit dem schief gewordene Mund und den starren Augen. Keine Frage, Murr war tot. Dutzende Raben saßen auf den Baumästen und betrachteten die Geschehnisse. In Stille, stummen Zeugen gleich.
    Noch bevor der nächste Regenschauer niedergebrochen war, hatten sie ihn weggebracht. Doktor Grüner hatte genickt und etwas gemurmelt, während eine dünne Zigarre zwischen seinen Fingern verglomm. Murr wurde in sein Haus auf dem Grabhügel getragen, weil es seine Frau so gewollt hatte. Er sollte Abschied nehmen können von der Stadt, von der Fabrik und nicht in der frisch getünchten Leichenhalle auf die Beerdigung warten müssen. Zaghaft berührte Sara die hohe schwere Eingangstür, die daraufhin einen Spalt weit aufschwang. Warme stickige Luft drang zu den Kindern. Alfons unterdrückte ein Schluchzen. Vorsichtig und mit leisen Schritten schlüpften sie ins Haus, ließen sich davon verschlucken. Robert fasste nach Alfons Hand, Alfons nach der von Christoph und das Skelett schloss seine dürren Finger fest um Saras Arm. Lange Schattenungeheuer huschten über die rissigen Tapeten, Knistern und Schnalzen von feuchtem Holz drang aus dem Salon, der direkt vor ihnen lag. Früher einmal hatten sich dort die Männer getroffen, um Zigarren zu rauchen und Cognac zu trinken. Ein mächtiger Kronleuchter mit hunderten von Kristallen, die in den Windböen klirrten. Äste, die an den Fenstern kratzten und pochten.
    Der Wintergarten, ein mächtiges Glaskonstrukt, zum Hang milchig
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