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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Autoren: Richard Lorenz
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auf dem Dachboden zu entfliehen. Onkel Hubert unten in der Küche, jener Mann, der seine Schwester umgebracht hatte. Seine Eltern, die Sophies Zimmer am nächsten Tag ausgeräumt hatten, das Bett und ihren Schrank zu dem Sperrmüll auf die Straße gestellt, ihre zwei Paar Schuhe davor. Ein anderes Mädchen kam vorbei und nahm sie mit, während Christoph auf der Treppe saß. Niemand, der weinte, niemand der schrie. Fotografien aus den Alben verschwanden, leere Flecken an den Wänden, auf denen sich die späten Sommerfliegen setzten.
    Wenn es kalt war, hatte Sophie in seinem Bett geschlafen. Hatte ihn geweckt, wenn der Regen zu fest an die Scheiben klopfte wie ungeduldige kleine Kinderfinger. Er hatte ihr dann vom weißen Ritter erzählt und von seinen Heldentaten, von fernen Ländern, solange, bis sie eingeschlafen war. Nächtelang war er wach geblieben, um sie vor den bösen Traumgeistern zu beschützen. Dann war alles gut gewesen, egal wie die Erwachsenen sein mochten. Aber er hatte sie einfach vergessen, von einem Augenniederschlag zum anderen. Nur manchmal war er aufgewacht und hatte nach ihr gesehen, für eine Sekunde lang ihren Namen auf seiner Zunge gespürt, doch dann war alles wieder verschwunden.
    Der Knochenjunge war immer hier geblieben, in dieser Stadt, die immer eine kleine Stadt bleiben würde. Eine Stadt, in der die Nächte dunkler waren als es gut sein konnte. Ein Ort, an dem das Unrecht gedieh. Hier wurde er zum Knochenmann.
    Manchmal bekreuzigten sich alte Frauen, wenn er ihnen begegnete. Wenn der Mond hinter den Häusern verschwand und mit ihm das Kometenlicht war es wie in jener stürmischen Herbstnacht, als er wieder seine Augen öffnete und um sich blickte und sie alle tot waren. Weiß Gott, warum sie es getan hatten, warum sie der Mut verlassen hatte, wieder zurückzukehren. Vielleicht, und das dachte sich Christoph in den unzähligen schlaflosen Nächten, in denen die Nordwinde um das kleine Haus strichen, wollten sie einfach keine Angst mehr haben. Vor den Ungeheuern dort unten in der Stadt, die ihnen weggenommen hatten, was sie liebten. Angst vor den Werwolfgestalten , die als Menschen durch die Straßen schlichen und Verderben brachten. Die nach ihnen schnappten, sobald sie unaufmerksam nach ihren Träumen griffen.
    Tapfer trage fort mein Herz
. Immer wenn er glaubte, die Dinge würden sich verändern, würden verschwinden, holte er den Zettel hervor und las. Dann waren alle Bilder, alle Schmerzen wieder da, und das war gut so.
    Sie waren tapfere Kinder gewesen, aber die Stadt hatte sie erdrückt, hatte ihnen den Atem genommen. Seine Erinnerungen an damals waren klarer als je zuvor. Seit jener Nacht in dem Haus auf dem Grabhügel, mit dem offenen Sarg und den Ratten darin ...
     
    Der Knochenjunge erwachte mit einem dumpfen Schmerz. Er lag auf dem Boden, helle Funken durchsprühten seinen Kopf, er ertastete eine Beule. Er setzte sich auf und blickte sich um. Sara lag neben dem Sarg, ihre Arme ausgebreitet. Mit einer Glasscherbe hatte sie sich beide Unterarme aufgeschnitten, hatte so tief es nur möglich war ins Fleisch gedrückt. Alfons lag nahe bei ihr, unter seinem Kopf das nass gewordene Taschenbuch, sein Blut wie Regenschlieren. Hagelkörner, die nicht geschmolzen waren, bedeckten Robert, der immer noch eine dieser scheußlichen Scherben in seiner rechten Hand hielt. Sie waren tot. Und er war allein.
    Schwärze zog sich vor Christophs Augen, ein wildes Flackern, ein pochender heißer Schmerz. Er drehte sich zur Seite, drehte sich weg von dem Anblick seiner toten Freunde, würgte und übergab sich auf den ausgeblichenen Teppich. Wartete einen Moment, schluckte und übergab sich abermals, bis nur noch Galle kam. Stand auf, stolperte über Alfons zerschnittenen Arm, stieß sich den Hüftknochen an einem Stuhl und rannte so schnell er nur konnte davon. Rannte über die Felder und Wiesen, rannte durch den Regen, der zu Schnee wurde. Und blickte kein einziges Mal zurück.
     
    Niemand verlor ein Wort darüber. Christoph war durch die Straßen gestrichen, hatte in Fenster geblickt, sein Bindfadentelefon gespannt, aber nichts geschah. Keine Erwachsenen, die sagten:
Hast du schon gehört, was passiert ist?
In manchen Momenten wollte er seine Eltern fragen, aber er tat es nicht. Vermutlich hätten sie nur gesagt:
Hast du dir das wieder ausgedacht? Wer soll das sein? Sara? Alfons? Robert? Wer soll das sein?
    Ihre Zimmer dunkel und leer, ihre Lieblingsplätze unbewohnt und einsam. Zugezogene
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