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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Autoren: Richard Lorenz
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rot wie Feuer. Zwei Häuser weiter hatte sie gewohnt, in einem winzigen Zimmer, in das er manchmal zu Besuch kommen durfte. Ihr Fahrrad, ein großes blaues Mädchenrad mit Spielkarten zwischen den Speichen, die wie Schüsse knatterten, hatte er noch ein paar Mal gesehen, ihre Mutter fuhr damit herum, als wäre es nie anders gewesen.
    Jungen und Mädchen in ihrem Alter, die noch vor Jahren ihre Freunde gewesen waren, mit denen sie zusammen Kieselsteinbuchstaben auf den Asphalt gekratzt hatten. Mit denen sie sich versteckt hatten zwischen den großen Bäumen, jenen, die fast zum Himmel wuchsen.
    »Wir haben sie vergessen«, sagte Sara, ihr Gesicht so bleich wie frischer Kalk. Sie weinte. Betete die Namen herunter, die ihr plötzlich wieder einfielen.
    Hagelkörner ließen die Fensterscheiben zerbersten.
    Alfons zog »Moby Dick« aus seiner Tasche und blätterte darin, zusammen mit Andreas, der ihm das Buch vor zwei Jahren geschenkt hatte. Auf der ersten Seite stand sogar sein Name. Immer wenn ihn Alfons berührte, an den Händen und Fingern, sah er die Blitzlichtaufnahmen, klar und schmerzlich. Ein Junge, der in einer Garage eingesperrt war, der Motor des taubenblauen Fords seines Vaters läuft, ein roter Backstein auf dem Gaspedal, die Türen verschlossen. Ein Junge, der sich die Finger blutig kratzt an dem Garagentor, während er langsam und qualvoll erstickt.
    »Wir haben alles verloren«, flüsterte Sara und setzte sich auf den Boden.
    Ein Wetterleuchten erhellte das Haus.
    »Wer bist du? Ich kenn dich doch.« Christoph stand vor einem Mädchen, dem jüngsten Mädchen im Raum. Ihr Kleid an den Enden eingerissen, die Haare kurz.
    »Weißer Ritter, weißer Ritter, weißer Ritter«, sang sie fröhlich und rannte durch ihn hindurch. Dann wurde er ohnmächtig und träumte von ihr. Onkel Hubert hatte sie in den Keller gebracht, sie musste sich ausziehen. Er hatte ihr die Beichte abgenommen und die Haare mit seinem Rasiermesser abgeschnitten. Die Augen mit einem Tuch verbunden. Mach deinen Mund auf, hatte er gesagt, und sie hatte es getan. Elf Wespen, eingesammelt im Garten, legte er ihr auf die Zunge. Als Strafe, weil sie ihm nicht gehorchte. Weil sie nicht gut genug war. Eine Missgeburt mit schiefen Augen. Schluck sie runter, es ist der Leib Gottes, hatte er gesagt und über ihrer Stirn ein Kreuz geschlagen. Christoph hatte seine Schwester Sophie, das Regenmädchen, vergessen. Dann verschwanden die Bilder wieder und alles, was blieb, war Dunkelheit.

Der Knochenmann erinnert sich
Herbst 1999
    Immer wenn das Licht draußen fahl wurde und die Gewitterzungen am Himmel leckten, konnte sich Christoph am deutlichsten erinnern. Dann waren die Bilder nicht wie ausgeblichene Fotografien, sondern vielmehr wie ein Traum, der so real war, dass man daran glauben konnte.
    Der Schreibtisch stand unter dem großen Fenster, von dem er zum Grabhügel und dem alten Haus sehen konnte. Es vergingen Tage, an denen er nichts anderes tat, als dort hinüber zu blicken, Kaffee zu trinken und Zigaretten zu rauchen, ein aufgeschlagenes Buch in den Händen, indem er nicht weiterlesen konnte. Nach »Schatten«, seinem ersten Roman, der tatsächlich zu einem Erfolg geworden war, hatte er nicht vorgehabt, einen weiteren Roman zu schreiben. »Schatten« war nur der Prolog gewesen, das Wetterleuchten, die ersten harmlosen Blitze am Waldrand.
    Tapfer trage fort mein Herz
. Diese Worte standen auf dem Zettel, dem ihm Sara in der letzten Nacht gegeben hatte. Die erste Zeile eines Gedichtes. Jeden Morgen faltete er ihn auseinander, die Kanten bereits eingerissen, das Papier abgegriffen. Die Buchstaben verblassten. Aber das alles spielte keine Rolle. Es waren wahrhaftige Worte, der Klang ihrer Stimme schwang mit, wenn er sie leise las.
    Nach dem großen Unglück 1986 hatte Christoph damit angefangen, ihre gemeinsame Geschichte aufzuschreiben, bruchstückhaft, Notizen nur, die das Geschehen einfingen und es auf diese Weise wachhielten. Was aus ihnen hätte werden können, wären sie nicht dort oben geblieben. Er hoffte, dass er damit das nächste Unglück abwenden konnte, wenngleich diese Hoffnung nicht sehr groß war. Jedenfalls nicht, solange er nicht zu dem Haus gehen würde, sie sehen und spüren konnte.
    Er strich mit seiner Hand über die Arme, über jene Stellen, an denen ihn die Wespen gestochen hatten, als er der weiße Ritter gewesen war. Wünschte sich, so stark wie damals als Kind zu sein, als die Welt verrückt spielte und er versucht hatte, ihr
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