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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Autoren: Richard Lorenz
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beschlagen, so dass man Namen und Herzen hätte darauf malen können. Davor in einem Lehnstuhl eine Frau. Neben ihr ein offener schwarzer Sarg. Mäuse und Ratten kletterten darauf herum, fielen von der Kante in das schneeweiße Futteral.
    »Er hält einfach nicht seinen Mund, er hält einfach nicht seinen Mund. Nicht einmal jetzt. Kann man sich das vorstellen?«, sagte die Frau und drehte ihr Gesicht zu den Kindern. Sie weinte, ihre Hände zitterten, der Rosenkranz klapperte zwischen ihren Fingern. Ihre Haare, einst dunkelbraun, waren über Nacht grau geworden und hingen ihr strähnig ins Gesicht.
    Ein merkwürdiges Gefühl durchfuhr die Kinder, als wären sie nicht alleine, als wären noch unzählige Menschen dort.
    »Er wollte ein Held sein. Ein Held! Ein Dummkopf war er, ein Dummkopf, mehr nicht. Sein Vater war noch ein richtiger Mann. Kein Dummkopf. Aber nein, er wollte ein Held sein. Ich habe ihn immer reden gehört. Die ganze Nacht. Immer wieder und immer wieder. Alle Namen, die ihm einfielen. Tausende von Namen, oh mein Gott. So viele Namen. Ich habe zu ihm gesagt, vergiss sie. Vergiss sie endlich. Vergiss sie. Aber mir sind sie doch eben erst alle eingefallen, hat er gesagt. Ich kann sie doch nicht schon wieder vergessen, hat er gesagt. Alles Wachs in den Ohren half nicht, ich hörte ihn durch die Wände. Selbst wenn er nicht mehr hier war, hörte ich ihn. Wie man Ratten hört, die schon längst das Gift gefressen haben. So viele Namen, so viele Namen. Immer und immer wieder.«
    Robert fing an zu weinen, und Sara spürte warmen Urin an ihren Unterschenkeln hinunterlaufen. Sie hätten weglaufen sollen, aber sie konnten nicht mehr.
    Eine Ratte kroch zwischen Hose und Hemd des Toten, ihr Schwanz schlang sich um den perlmuttfarbenen untersten Hemdknopf und verschwand.
    »Er redet und redet und redet. Habe ihm den Mund zugeklebt, mit dem guten Leim. Aber er redet weiter.«
    Die Kinder sahen genauer hin, und tatsächlich waren die Lippen des Toten geschwollen, eingerissen und glänzten vom getrockneten Leim, vermengt mit dunklem, geronnenen Blut.
    Es sieht aus, als würde er Lippenstift tragen, schoss es Sara durch den Kopf.
    »Er wird im Grab noch weiterreden, nur um mich zu ärgern. Er konnte mich nie leiden, er konnte nichts hier leiden. Er hasste mich, er hasste die ganze Stadt. Jeden.«
    Der Rosenkranz fiel zu Boden, ihre Hand glitt zur Seite, verschwand. Ihre Worte wurden undeutlich, und vermutlich fing sie an zu beten. Aus den oberen Räumen waren Stimmen zu hören.
    »Seit er ihre Namen sagt, reden sie. Sie reden alle. Natürlich. Undankbares Gesindel. Immer nur das freche Maul aufreißen. Der Teufel soll sie holen!«
    Sie wankte ein wenig im Stuhl, und für einen Moment sah es beinahe so aus, als würde sie nach vorne kippen. Dann sahen sie ihre Hand, deren Finger nun einen Revolver umschlossen. Ihre Augen waren feucht und die Pupillen so klein, dass sie beinahe im trüben Blau der Iris verschwanden. Sie steckte sich den pechschwarzen Lauf in den Mund, murmelte etwas, riss ihre Augen auf und drückte ab.
    Der Knall ließ die Kinder zusammenzucken und erstarren, die Welt hielt für einen Moment inne. Draußen trommelten Hagelkörner auf die Erde, groß wie Kinderfäuste .
     
    Alfons war der Erste, der die anderen Kinder bemerkte. Sie hatten sich von dem Grauen abgewandt, die Augen verschlossen, die Ohren zugehalten. Ihre Schreie waren mit dem Schuss verhallt. Das Licht hatte sich verändert, als wäre ein Wetterleuchten über sie gekommen.
    Dann sah Sara den Jungen, der neben ihr in der Schule gesessen und von einem Tag zum anderen nicht mehr gekommen war. Sein Lachen hatte sie immer gemocht, ein wenig war sie sogar in ihn verliebt gewesen. Ja, natürlich, sie hatte ihm sogar Briefe geschrieben, die sie ihm in die Schultasche gesteckt hatte. Wie in aller Welt hatte sie ihn nur vergessen können? Er kam auf sie zu, berührte ihre Schultern und ging durch sie hindurch. Ließ sie spüren, was mit ihm geschehen war. Kurz vor Weihnachten, in seinem Zimmer, als plötzlich sein Vater mit dem Beil, mit dem er sonst hinter dem Haus das Holz spaltete, hereingekommen war, ein Weihnachtslied summend. Der erste Hieb hatte beinahe seinen Unterarm abgetrennt, und Sara hörte die Stimme des Vaters, während der Junge versuchte, sich unter dem Bett zu verkriechen.
Hoppla, das war wohl nichts
.
    »Maria?«, flüsterte Robert und hob seine Hand, wollte sie berühren. Sie hatte ihn beim Fahrradrennen immer besiegt, ihre Haare
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