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Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf

Titel: Kinderland: Erster Teil: Ein Unwetter zieht auf
Autoren: Richard Lorenz
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Asphalt.
    »Was sagst du da? Scher dich weg!«
    »Ich! Ich! Ich habe sie doch umgebracht! Sie alle erhängt, jetzt liegen sie unten. Schaut nach, grabt sie aus!«
    »Verschwinde! Oder ich prügle dich, bis dir alles vergeht, Zigeunerdreck!«
    Jemand spuckte auf die Straße und bekreuzigte sich. Fenster schlugen zu, Vorhänge wurden vorgezogen. Eine Katze schrie im Garten dahinter.
    Später, längst erwachsen, hatte er es in ihren Augen gesehen. Dass sie es nicht nur erahnt, sondern gewusst hatten, immer schon, auf eine verborgene Art und Weise. Träumte ihre schal gewordenen Träume, seine Frau im Zimmer neben dem seinen, längst fremd geworden. Kinder hatten sie nie gehabt, sie mochte keine Kinder, sie hasste sie. Manchmal stand Murr auf, ging zum Fenster und fragte sich, ob in dieser Stadt überhaupt jemand Kinder mochte. Es gab sie, natürlich, sie liefen durch die Gassen, schaukelten auf Gummireifen an den Bäumen, aber etwas an ihnen stimmte nicht. Vielleicht war es das fehlende freudige Kreischen und Johlen, das nie einsetzende Lachen und Weinen. Ihre gesenkten Häupter in den vorderen Kirchenbänken am Sonntag und wenn sie an Sommerabenden in ihre Häuser zurückschlichen. Sie waren wie die Jungen einer sträunenden Katze, die niemand haben wollte. In schlechten Zeiten ertränkte man sie einfach, geradeso wie Herbstkatzen im Hinterhof. Das Sterben greift um sich wie eine Seuche, hatte er sich gedacht, aber das Töten ist noch ansteckender, ansteckender als die schlimmste Krankheit der Welt. Wären nicht alle Kinder tot, wäre längst ein Krieg ausgebrochen, ein Krieg gegen die Erwachsenen .
     
    Kurz vor seinem Tod träumte Murr von all diesen Kindern, die nicht mehr durch die Straßen stromerten, nicht mehr von den Apfelbäumen aßen und nicht mehr heimlich Knallerbsen in die Kellerschächte warfen. Verwinkelt und trübe, und doch sah er sie – Mädchen, die mit Kopfkissen erstickt oder unter Badewasser gedrückt wurden, Jungen, die Rattengiftkuchen bekamen und in Keller gesperrt wurden, bis sie nicht mehr schrien. Träumte von ihnen, bis er im Schlaf nach ihnen rief, diesen Kindern der Stadt, die in den Bachläufen lagen mit dem bleichen Gesicht nach unten. Dutzende Kinder, die den Judenkindern gefolgt waren, als läge ein uralter Fluch auf allen Häusern und auf den Menschen, die sie bewohnten. Versuchte, ihre Herzen schlagen zu hören, wenn er dorthin ging. Kinderland hatten sie diesen Ort spöttisch genannt. Ein Friedhof ohne Grabsteine, ohne Inschriften, wilde Blumen auf den Gräbern. Irgendwann würde ein Hochwasser die Knochen emporspülen und mit ihnen die vergessenen Seelen.
    Die Kinder fürchteten sich vor diesem Ort, er war ihnen auf eine Weise unheimlich, die sie nicht beschreiben konnten. An manchen Tagen hörten sie dort unten merkwürdige Stimmen, ein Rascheln, ein Knistern im Unterholz. Nur selten durchquerten Kinder diese Gegend, nach Kaulquappen suchend, in ihren Händen Einmachgläser gefüllt mit trübem Wasser. Das kleine Waldstück immer ein unheimliches Auge, das sie beobachtete.
    Wie viele Kinder hier begraben waren, wusste Murr nicht und vielleicht wollte er es auch gar nicht wissen. Aber eines wusste er sehr wohl: Er musste hier bleiben, hier an diesem Ort, den er so sehr verachtete. Vermutlich hätten sie ihn von hier längst vertrieben oder sogar getötet, wenn er nicht der
alte Murr
wäre, der alte Murr mit der großen Fabrik am Ort. Vielleicht wären sie nachts zu ihm gekommen, um ihn zu holen. Sie hätten ihn hier heruntergetrieben und gezwungen, eine Grube zu graben, in der er Platz fände. Lebendig vergraben mit hungrigen Ratten in den Taschen, die auf die Stille warteten.
    Nur selten flackerte Zuversicht in ihm auf. Er spürte dort und da eine gute Seele, wusste jedoch zugleich, dass dies eine verlorene Stadt war, mit verlorenen Menschen. Verlorene Herzen, die nicht mehr nach den Papierdrachen in den Bäumen suchten. Weiß Gott, ob sie in jenen Kindern, die noch durch die Stadt trieben so etwas fanden wie eine dunkle Hoffnung, die Weltenverdreher in den Kellerräumen längst erschlagen. Schwestern und Brüder, die eine Geschichte hätten wenden können, stark genug dafür waren sie. Jene Kinder, die schlimme Häuser angezündet und böse Menschen erkannt hätten auf den ersten Blick. Zurückgelassen die Taumelkinder, die nachts mit schreckgeweiteten Augen zum Nachthimmel blickten und den Glauben an sich selbst verloren.
    In seiner Tasche fühlte Murr unzählige Sammelkarten.
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