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Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers
Autoren: Julia Kröhn
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auch er im Traum so vertraut gewirkt hatte, kannte sie nicht, desgleichen konnte sie den Namen des Ortes nicht benennen, an dem Blumen inmitten der Klippen am Meer wuchsen. Und warum trieb ihr die Sehnsucht Tränen in die Augen?
    Das Licht, das durch die Luken ins Innere sickerte, war noch matt. Mathilda fühlte Mauras nachdenklichen Blick auf sich ruhen und wandte sich rasch ab. Durch die dicken Mauern des Dormitoriums hörte sie die Glocke läuten. Die Glocke läutete oft, sieben Mal am Tag.
    »Du hast verschlafen«, murmelte Maura.
    Mathilda fühlte keine Sehnsucht mehr nach dem Ort, der ihr immer fremder wurde, je mehr Leben in ihre steifen Glieder zurückkehrte. Scham stieg in ihr auf, denn sie erlaubte sich nur ungern eine Schwäche.
    »Warum hast du mich nicht geweckt?«
    »Ich wecke dich doch jetzt!«
    »Zu spät, wie’s scheint!«
    Maura zuckte die Schultern. Sie nahm es mit den Klosterregeln nicht ganz so genau, schon oft hatte sie verschlafen und hinterher nie jene Reue gezeigt, die Mathilda jetzt überkam.
    »Sei nur ganz ruhig«, tröstete sie. »Nach der Aufregung der letzten Tage meinte die Äbtissin, du solltest dich ausruhen. Sie selbst hat mich davon abgehalten, dich zu wecken.«
    Mathilda seufzte. In der Tat – in den letzten Tagen war mehr geschehen als in ihrem ganzen sechzehn Jahre währenden Leben zuvor. Einem Leben, das sie fast ausschließlich im Kloster zugebracht und Gott geweiht hatte. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, als sie hergebracht wurde, von wem und warum, war immer bedeutungslos gewesen – zumindest, ehe sie begonnen hatte, von der Blumenwiese und von dem blonden Mann zu träumen und sich zu fragen, ob dies Ausgeburten ihrer Fantasie waren. Oder vielleicht Erinnerungen?
    »Endlich ist wieder Frieden eingekehrt«, sagte Mathilda.
    Sie erhob sich, fühlte sich aber nicht wirklich ausgeruht. Ihr Kopf schien zu schwer, und die Zunge war trocken. Als sie an Maura vorbeigehen wollte, hielt diese sie auf. »Du hast im Traum übrigens eine fremde Sprache gesprochen«, sagte sie.
    Die junge Nonne war verwirrt. »Welche Sprache?«
    »Hätte ich fremd gesagt, wenn ich sie verstanden hätte?«
    Mathilda zuckte die Schultern und machte sich von Maura los. »Ich spreche Fränkisch und Latein«, erklärte sie entschieden, »sonst nichts. Das Sprechen habe ich doch erst hier erlernt.«
    Der bittere Geschmack in ihrem Mund verging, aber die Verwirrung begleitete sie den ganzen Tag hindurch. Hier im Kloster war auf keinerlei Ablenkung zu hoffen. Für gewöhnlich war es zwar das beschauliche Gleichmaß der Tage, was sie an ihrem Leben am meisten schätzte, doch heute fand sie nicht einmal bei der Lektüre Besänftigung für ihr aufgewühltes Gemüt – weder bei der gemeinschaftlichen noch bei der persönlichen. Die übliche Neugier, welches Buch oder welchen Bibeltext man ihr zuteilen würde, auf dass sie später darüber Bericht erstattete, blieb aus.
    Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, obwohl sie gern schrieb und noch lieber las. Nur selten beklagte sie sich über einen schmerzenden Rücken. Zwar hätte sie nie von sich aus das Skriptorium als jenen Ort erkoren, wo sie ihre Talente am besten leben konnte, aber als die Magistra sie dafür bestimmte, hatte sie es hingenommen. Sie war dankbar dafür, nicht stolz darauf – Stolz war schließlich eine Sünde, ihr Talent hingegen ein von Gott geschenktes, wenn auch ein seltenes. Es kam nicht oft vor, dass Gott Frauen mit der Gabe des Verstandes überreich ausstattete. Wenn es aber geschah – so schrieb es der heilige Hieronymus an seine Schülerin Laeta –, dann möge man es fördern, die Frauen nicht nur Spinnen, Weben und Schneidern zu lehren, sondern auch Lesen und Schreiben. Nicht zum Selbstzweck natürlich, sondern auf dass sie die Heiligen Schriften erlernen und verstehen würden.
    Heute lernte und verstand Mathilda nichts. Die Lektürestunden vergingen, ihr Geist jedoch blieb leer. Später saß sie hinter dem Schreibpult, aber ihre Hand war wie gelähmt. Vor kurzem noch hatte sie sich über die Auszeichnung gefreut, nicht länger nur auf Wachstäfelchen schreiben zu müssen, sondern auch Pergament benutzen zu dürfen. Ehrfürchtig hatte sie darübergestrichen, sich vorgestellt, diese Seiten nicht nur mit Texten, sondern auch mit kunstvollen Zeichnungen zu versehen – so wie die Nonnen im berühmten Chelles, die im ganzen Land für ihre Bücher bekannt waren. Der Erzbischof von York hatte von ihnen gar ein Evangeliar mit
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