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Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers
Autoren: Julia Kröhn
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zu hören.
    Es geht mich nichts an!, wollte sie schreien. Stattdessen erklärte sie: »Wir sind alle Kinder Gottes. Das ist das Einzige, was zählt.«
    Immer noch begann er nicht zu essen. Mathilda starrte auf das Brett mit dem Käse, und plötzlich erwachte die Gier, ihn selbst zu verschlingen – nicht weil sie hungrig war, sondern weil sie schlucken wollte, was da in ihr aufstieg, die bange Frage nämlich, ob sie genauso entsetzt wie er sein würde, wenn sie wüsste, wessen Kind sie war.
    Sie spürte seinen Blick auf sich ruhen und konnte ihn, als sie ihn erwiderte, nicht deuten. Hastig wandte sie sich ab.
    »Ich werde bald nach Jumièges zurückkehren. Das ist das Kloster, aus dem ich stamme.«
    Sie nickte. »Ich weiß. Es heißt, es sei das größte der Normandie.«
    »Und wenn ich fort bin, herrscht hier wieder Frieden.«
    »Gewiss«, sagte sie.
    Sie wollte daran glauben, und kurz gelang es ihr, kurz fühlte sie jenen Frieden, den Stille und Einfachheit und ein fester Rhythmus schenken.
    Dieser Friede währte nur drei Schritte lang, die Mathilda in Richtung Tür machte, dann brach draußen der Lärm los – just in dem Augenblick, da Arvid sich gebückt und das Brett mit Brot und Käse vom Boden aufgehoben hatte. Er erschrak, sodass es ihm aus seinen Händen glitt. Käse und Brot fielen auf den lehmigen Boden.
    Schade um das Essen, dachte Mathilda noch. Aber als sie von Arvid gefolgt ins Freie stürzte und die Pferde sah, die Männer, die darauf saßen, und die Waffen, die sie schwangen, da dachte sie gar nichts mehr.
    Sie hatte gehört, dass die Heiden aus dem Norden wie Wölfe heulen würden, wenn sie Klöster überfielen, Feuer legten und Mauern zum Einsturz brachten, doch jetzt hörte sie nur ihren eigenen Herzschlag. Sie hatte gehört, dass Zeichen die Geißel Gottes ankündigten – Feuer in Form von Drachen, Flammen auf dem Meer, schreckliche Wirbelstürme und Kometen, doch sie kamen wie aus dem Nichts. Sie hatte gehört, dass sie Felle trügen wie Tiere, aber diese schienen auf den ersten Blick wie aus Eisen gemacht – in ihren Kettenpanzern, die nur die Unterarme freiließen, den kegelförmigen Helmen, dem Nasenschutz, der Kapuze aus metallenen Maschen gefertigt. Aus Eisen waren auch ihre Waffen – Lanzen, Streitäxte, Schwerter, Keulen.
    Mathilda starrte die Männer an, begriff nicht, warum sie so anders aussahen als erwartet, und begriff noch weniger, wie sie durch die Pforte ins Kloster gelangen konnten. Die fränkischen Krieger, die das Kloster einige Tage zuvor auf der Suche nach Arvid überfallen hatten, waren auf ein verschlossenes Tor gestoßen und hatten vergebens dagegengehämmert. Erst nach einer Weile kam sie zum Schluss, dass heute das Tor wohl geschlossen, aber kein Riegel vorgeschoben gewesen war.
    Der Gedanke erleichterte sie. Während die Welt im Chaos versank, gab es etwas, das der logischen Ordnung entsprach.
    Durch das Gebrüll der Männer und das Gewieher der Pferde vernahm sie aus weiter Ferne schließlich eine Stimme, Arvids Stimme. »Komm mit!«, schrie er ihr zu.
    Mathilda rührte sich nicht. Nicht nur Arvids Stimme hörte sie aus dem Lärm klar und deutlich heraus, auch die eines der Krieger. Er sprach nicht Fränkisch, nicht Latein und nicht Altgriechisch, und doch verstand sie ihn.
    »Findet sie!«
    Es war eine fremde Sprache, in der er redete – und ihr dennoch vertraut. Ebenso vertraut wie der Anblick der Wiese inmitten der Klippen am Meer, wie der blonde Mann, der sie in die Arme schließen wollte.
    Doch als Arvid sie packte und fortzog, war auf der Welt plötzlich nichts Vertrautes mehr. Der Boden schien sich aufzutun, um alles zu verschlucken, was Mathilda kannte. Sie sah ihre Mitschwestern, die in den Hof gelaufen kamen, sah, wie sie von den fremden Kriegern gepackt und erschlagen wurden, und der Anblick, wie sie blutig zusammenbrachen, war so unwirklich, dass sie ihren Sinnen nicht länger traute. Das war nicht das Kloster, in dem sie aufgewachsen war.
    Arvid zog sie zurück ins Refektorium, doch er blieb nicht lange dort, zerrte sie alsbald durch den Raum zu einer kleinen Luke. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals davorgestanden und hinausgeblickt zu haben. Ehe sie sah, was sich hinter der Luke befand, hatte er sie schon geöffnet und schob sie hindurch, sodass sie mit dem Kopf voran hinausfiel. Sie prallte auf der linken Schulter auf, spürte einen heftigen Schmerz, aber sie traute dem Schmerz nicht – er war nicht wirklich, er konnte nicht wirklich sein,
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