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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht
Autoren: Dan Simmons
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weit entfernt die Schienen entlang, heulte eine Lokomotive.
    Die Frau von der Botschaft schüttelte den Kopf, aber Radu Fortuna kam näher. »Heute nacht fahren wir mit dem Zug nach Sebeş, Sibiu, Copşa Mica und Sighişoara«, sagte der lächelnde Rumäne. »Dann sehen Sie, wohin die Babys gekommen sind.«
     
    Vor den Fenstern unseres Zuges wurde der Winterabend zur Winternacht. Der Zug fuhr durch Berge so zerklüftet wie verfaulte Zähne - ich konnte mich damals nicht erinnern, ob es sich um die Făgăraş-Berge oder die Ausläufer der Bucegi-Karpaten handelte -, und der erbärmliche Anblick zusammengedrängter Dörfer und verfallener Bauernhöfe wich einer Schwärze, die nur gelegentlich vom Schein einer Öllampe in einem fernen Fenster unterbrochen wurde. Einen Augenblick war die Illusion vollkommen, und ich bildete mir ein, ich würde im fünfzehnten Jahrhundert durch diese Berge reisen, mit der Kutsche zur Burg auf dem Argeş, in einem Wettlauf gegen Feinde durch diese Berge preschen, die ...
    Ich stellte erschrocken fest, daß ich beinahe eingedöst wäre. Es war Silvester, der letzte Abend des Jahres 1989, und die Nacht würde bringen, was gemeinhin als das letzte Jahrzehnt des Jahrtausends angesehen wurde. Doch der Anblick vor den Fenstern blieb ein Panorama des fünfzehnten Jahrhunderts. Die einzigen Eindringlinge moderner Zeiten bei unserer Abreise aus Tîmişoara am Abend waren vereinzelte Militärfahrzeuge auf den verschneiten Straßen und wenige Stromleitungen, die man zwischen den Bäumen erspähen konnte, gewesen. Dann waren auch diese armseligen Fetische verschwunden, und es blieben nur die Dörfer, die Öllampen, die Kälte und ab und zu gummibereifte Karren, die von Pferden gezogen wurden, die nur aus Haut und Knochen zu bestehen schienen und deren Treiber sich unter dunklen Wollsachen versteckten. Dann waren selbst die Straßen der Dörfer verlassen, durch die der Zug brauste, ohne anzuhalten. Mir fiel auf, daß manche Dörfer vollkommen dunkel waren, obwohl es noch nicht einmal zehn Uhr war, und als ich mich nach vorne beugte und den Frostbeschlag von der Scheibe wischte, stellte ich fest, daß das Dorf, durch das wir fuhren, ausgestorben war - Gebäude niedergewalzt, Steinmauern abgerissen, Bauernhäuser in Trümmer gelegt.
    »Systematisierung«, flüsterte Radu Fortuna, der lautlos neben mir im Mittelgang aufgetaucht war. Er kaute an einer Zwiebel.
    Ich bat ihn nicht um eine Erklärung, aber unser Reiseführer lächelte und gab sie dennoch ab. »Ceauşescu wollte das Alte ausrotten. Er ließ Dörfer abreißen und Tausende Menschen in städtische Siedlungen wie den Boulevard Sieg des Sozialismus in Bukarest transportieren ... kilometerlange Mietskasernen. Nur sind Gebäude nicht fertig, als sie Dörfer abreißen und Menschen deportieren. Keine Heizung. Kein Wasser. Kein Strom ... er verkauft Elektrizität an andere Länder. Sie verstehen. Dorfbewohner haben kleine Häuser hier, sind drei-, vielleicht vierhundert Jahre im Familienbesitz, wohnen jetzt aber im neunten Stock eines schlechten Backsteinhauses in einer fremden Stadt ... keine Fenster, kalter Wind weht herein. Müssen Wasser eine Meile weit tragen, dann neun Treppen hinauf schleppen.«
    Er riß einen großen Bissen von der Zwiebel ab und nickte zufrieden. »Systematisierung.« Er ging weiter den verrauchten Mittelgang entlang.
    Die Berge blieben in der Nacht zurück. Ich döste wieder ein - ich hatte in der Nacht zuvor kaum geschlafen, traumlos oder nicht, und in der Nacht zuvor im Flugzeug auch nicht -, erwachte nun aber achselzuckend und stellte fest, daß der Professor emeritus den Platz neben mir belegt hatte.
    »Verdammt, nirgendwo Heizung«, flüsterte er und zog den Schal enger um sich. »Man sollte meinen, daß die ganzen Bauernleiber und Ziegen und Hühner und was sie sonst noch alles in ihren sogenannten Erste-Klasse-Wagen befördern, daß die zumindest ein bißchen Körperwärme hier drinnen erzeugen, aber es ist so kalt wie die toten Titten der Madame Ceauşescu.«
    Ich blinzelte ob dieses Vergleiches.
    »Eigentlich«, sagte Dr. Paxley, »ist es gar nicht so schlimm, wie sie behaupten.«
    »Die Kälte?« sagte ich.
    »Nein, nein. Die Wirtschaft. Ceauşescu ist möglicherweise das einzige Staatsoberhaupt in diesem Jahrhundert, dem es tatsächlich gelungen ist, die Staatsschulden seines Landes zurückzuzahlen. Selbstverständlich mußte er, um das zu bewerkstelligen, Lebensmittel, Elektrizität und Konsumgüter an andere
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