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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht
Autoren: Dan Simmons
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Ihnen zeigen. Sehen Sie, sehen Sie.« Fortuna breitete die Arme aus und gestikulierte beinahe stolz durch den Raum - ein Koch, der das Bankett vorführte, das er vorbereitet hatte.
    Auf dem Tisch vor uns lag der Leichnam eines alten Mannes. Seine Hände und Füße waren mit einem nicht besonders scharfen Gegenstand amputiert worden. Er hatte Verbrennungen auf Unterleib und Genitalien, und die Brust wies offene Wunden auf, die mich an Fotos von Flüssen und Kratern des Mars erinnerten, wie die Viking-Sonde sie übermittelt hatte.
    Der rumänische Arzt sagte etwas. Fortuna übersetzte. »Er sagt, die Securitate haben mit Säure gespielt. Ja? Und hier ...«
    Die junge Frau lag auf dem Boden, vollständig bekleidet, abgesehen von einem Riß in der Kleidung, der von den Brüsten bis zum Schambein reichte. Was ich zuerst für eine zweite Schicht aufgeschnittener roter Fetzen gehalten hatte, entpuppte sich bei näherem Hinsehen als die rote Wandung des aufgeschnittenen Bauchs und Unterleibs. Ein sieben Monate alter Fötus lag in ihrem Schoß wie eine achtlos weggeworfene Puppe. Es wäre ein Junge gewesen.
    »Hier«, befahl Fortuna, der gestikulierend durch ein Dickicht von Knöcheln stieg.
    Der Junge mußte etwa zehn gewesen sein. Der Tod und eine Woche oder mehr Eiseskälte hatten die Haut aufgebläht und ihr die Beschaffenheit von fleckigem, marmoriertem Pergament verliehen, aber der Stacheldraht um seine Knöchel und Handgelenke war noch deutlich zu sehen. Man hatte ihm die Arme derart brutal auf den Rücken gebunden, daß die Schultergelenke völlig aus den Pfannen gedreht worden waren. Fliegen hatten sich in seinen Augen niedergelassen, ihre Eier vermittelten den Eindruck, als trüge das Kind weiße Kontaktlinsen.
    Professor emeritus Paxley stieß einen Laut aus, taumelte aus dem Raum und stolperte dabei fast über die dort aufgereihten Leichen. Die knotige Hand eines alten Mannes schien am Hosenbein des fliehenden Professors zu zupfen.
    Pater O'Rourke packte Fortuna am Mantelkragen und hob den kleinen Mann fast vom Boden hoch. »Warum, um alles in der Welt, zeigen Sie uns das?«
    Fortuna grinste. »Wir haben noch mehr, Pater. Kommen Sie.«
     
    »Sie haben Ceauşescu den ›Vampir‹ genannt«, sagte Donna Wexler, die später hergeflogen war und sich zu uns gesellt hatte.
    »Und hier, in Tîmişoara, hat alles angefangen«, sagte Carl Berry, der an seiner Pfeife paffte und dabei den grauen Himmel, die grauen Gebäude, den grauen Schneematsch auf der Straße und die grauen Menschen betrachtete, die durch das trübe Licht huschten.
    »Hier, in Tîmişoara, begann die letzte Explosion«, sagte Donna Wexler. »Die jüngere Generation wurde schon seit geraumer Zeit immer unruhiger. In gewissem Sinne hat Ceauşescu sein eigenes Todesurteil unterschrieben, indem er diese Generation geschaffen hat.«
    »Diese Generation geschaffen hat?« wiederholte Pater O'Rourke stirnrunzelnd. »Das müssen Sie mir erklären.«
    Donna Wexler erklärte es ihm. Mitte der sechziger Jahre hatte Ceauşescu die Abtreibung verboten, die Einfuhr von Verhütungsmitteln unterbunden und verkündet, es wäre die Verpflichtung jeder Frau dem Staat gegenüber, viele Kinder zu haben. Des weiteren hat seine Regierung Geburtenprämien eingeführt und Steuersenkungen für alle Familien beschlossen, die dem Aufruf nach mehr Geburten folgten. Paare, die weniger als fünf Kinder hatten, wurden nicht nur höher besteuert, sondern darüber hinaus mit Bußgeldern belegt. Zwischen 1966 und 1976, so Donna Wexler, nahm die Geburtenrate um vierzig Prozent zu, begleitet von einem sprunghaften Anstieg der Kindersterblichkeit.
    »Die Masse dieser jungen Menschen um die zwanzig bildete Ende der achtziger Jahre den Kern der Revolution«, sagte Donna Wexler. »Sie hatten keine Arbeit, keine Chancen auf eine Universitätsausbildung ... nicht einmal angemessene Wohnunterkünfte. Sie haben die Proteste in Tîmişoara und anderswo angefangen.«
    Pater O'Rourke nickte. »Ironie ... aber angemessen.«
    »Natürlich«, sagte Donna Wexler und hielt nahe des Bahnhofs inne, »konnten es sich die meisten Bauernfamilien nicht leisten, die zusätzlichen Kinder großzuziehen ...« Sie verstummte mit dem Diplomaten eigenen Verlegenheitszucken.
    »Und was ist mit diesen Kindern passiert?« fragte ich. Es war erst früher Nachmittag, doch das Licht war schon zu winterlicher Dämmerung verblaßt. An diesem Abschnitt der Hauptstraße von Tîmişoara gab es keine Straßenlaternen. Irgendwo,
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