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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht
Autoren: Dan Simmons
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wieder, und ich konnte im grellen Scheinwerferlicht eines entgegenkommenden Armeelastwagens sehen, wie seine Silhouette die Achseln zuckte. An den Innenseiten der Fenster gefror allmählich eine dünne Kondensschicht zu Eis. Meine Finger waren steif vor Kälte, und ich konnte kaum die Zehen in den absurden Bally-Schuhen spüren, die ich heute morgen angezogen hatte. Ich kratzte am Eis meines Fensters, als wir in die Stadt fuhren.
    »Ich weiß, Sie sind alle sehr bedeutende Persönlichkeiten aus dem Westen«, sagte Radu Fortuna, dessen Atem ein kleines Nebelwölkchen bildete, das zum Dach des Buses emporstieg wie eine entweichende Seele. »Ich weiß, Sie sind der berühmte westliche Milliardär Mr. Vernor Deacon Trent, der für diese Reise bezahlt«, sagte er und nickte mir zu, »aber ich fürchte, die anderen Namen habe ich vergessen.«
    Donna Wexler übernahm es, uns vorzustellen. »Doktor Aimslea arbeitet für die Weltgesundheitsorganisation ... Pater Michael O'Rourke hier repräsentiert sowohl die Erzdiözese von Chicago wie auch die Stiftung Save the Children.«
    »Ah, wie schön, einen Priester hier zu haben«, sagte Fortuna, aber ich hörte möglicherweise so etwas wie Ironie aus seiner Stimme heraus.
    »Doktor Leonard Paxley, Professor emeritus der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Princeton«, fuhr Donna Wexler fort. »1978 Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften.«
    Fortuna verbeugte sich vor dem alten Gelehrten. Paxley hatte während des ganzen Fluges von Frankfurt kein Wort gesprochen, und hier wirkte er verloren in seinem zu großen Mantel und den Falten seines Schals: ein alter Mann auf der Suche nach einer Parkbank.
    »Wir heißen Sie willkommen«, sagte Fortuna, »auch wenn unser Land in gegenwärtigem Zustand keine Wirtschaft besitzt.«
    »Verdammt, ist es hier immer so kalt?« ertönte eine Stimme tief in den Falten des Wollschals. Der Nobelpreisträger und Professor emeritus stampfte mit seinen kleinen Füßen auf. »Hier drinnen ist es so kalt, daß einem Bronzestier die Eier abfrieren könnten.«
    »Und Mr. Carl Berry, der American Telegraph and Telephone repräsentiert«, fiel Donna Wexler hastig ein.
    Der pummelige Geschäftsmann neben mir paffte seine Pfeife, nahm sie aus dem Mund, nickte in Fortunas Richtung und rauchte das Ding dann weiter, als wäre es eine notwendige Wärmequelle. In einer wirren Vision sah ich uns sieben einen Moment alle zusammengekauert um die Glut in Berrys Pfeife herumsitzen.
    »Und Sie sagen, an unseren Sponsor, Mr. Trent, können Sie sich erinnern?« kam Donna Wexler zum Ende.
    »Jaa«, sagte Radu Fortuna. Seine Augen funkelten, als er mich durch Berrys Pfeifenrauch und die Kondenswölkchen seines eigenen Atems hindurch ansah. Ich konnte fast mein Spiegelbild in diesen glänzenden Augen erkennen - ein sehr alter Mann mit tief in den Höhlen liegenden Augen, die nach den Anstrengungen der Reise noch tiefer lagen, ein schrumpeliger und runzliger Körper in teurem Anzug und Mantel. Ich war sicher, daß ich älter als Paxley aussah, älter als Methusalem ... älter als Gott.
    »Ich glaube, Sie waren schon einmal in Rumänien?« fuhr Fortuna fort. Ich konnte sehen, wie die Augen unseres Führers heller strahlten, als wir in die besser beleuchteten Stadtviertel kamen. Ich hatte kurz nach dem Krieg eine Zeit in Deutschland verbracht. Die Szene vor dem Fenster hinter Fortuna sah genauso aus. Auf dem Platz des Palastes standen weitere Panzer, schwarze Hüllen, die man für verlassene Haufen kalten Metalls hätte halten können, wäre einer von ihnen uns im Vorbeifahren nicht mit dem Geschützturm gefolgt. Wir sahen die rußigen Leichen ausgebrannter Autos und mindestens einen gepanzerten Truppentransporter, der nur noch ein Berg versengten Stahls war. Wir bogen nach links ab und fuhren an der Universitätsbibliothek vorbei, deren goldenes Kuppeldach zwischen rußigen, pockennarbigen Wänden eingestürzt war.
    »Ja«, sagte ich. »Ich bin schon einmal hier gewesen.«
    Fortuna beugte sich zu mir. »Und dieses Mal eine Ihrer Firmen wird möglicherweise ein Werk hier errichten, ja?«
    »Vielleicht.«
    Fortuna ließ mich nicht aus den Augen. »Wir arbeiten hier sehr billig«, flüsterte er so leise, daß ich bezweifelte, daß ihn außer Carl Berry jemand verstehen konnte. »Sehr billig. Arbeitskraft ist sehr billig hier. Das Leben ist sehr billig hier.«
    Wir waren links von der menschenleeren Calea Victoriei abgebogen, dann wieder rechts auf den
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