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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht
Autoren: Nancy Kilpatrick
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läuft, nimm nichts davon. Wenn du aber glaubst, die Dinge geraten außer Kontrolle - mit André -, dann solltest du darüber nachdenken.«
    »Das klingt okay«, sagte Carol. Aber ihre Besorgnis war geweckt. »Glaubt ihr denn, es könnte außer Kontrolle geraten?«
    Niemand erwiderte etwas darauf, und auch Rene hielt ausnahmsweise einmal den Mund.
    Gerlinde und Jeanette zerrten Rene vom Bett zu einem Sessel. Sie schrie und wehrte sich, als sie ihr die Arme an die Armlehnen fesselten.
    »Nein! Nicht!«, sagte Carol. »Sie ist doch harmlos.«
    »Das nehme ich dir nicht ab, Kleines.«
    »Sie hat nur ein paar Probleme, mehr nicht!«
    »Das Problem«, sagte Rene, »ist die Zeit.«
    »Sie ist das Problem, und sie wird uns alles vermasseln«, meinte Gerlinde.
    Carol schüttelte den Kopf. »Sie ist für mich da gewesen. Ich bin es ihr schuldig.«
    »Die Seele muss ihrem Weg folgen«, sagte Morianna, »und sollte sich nicht durch irgendwelche Verpflichtungen vom vorgezeichneten Pfad abbringen lassen.«
    Aber Carol war nicht bereit, so einfach ihre Menschlichkeit aufzugeben. Ihre Beziehung zu Rene ging weit über die Beziehung zu einer Therapeutin hinaus, und es war auch mehr als nur Freundschaft. Sie gehörten der gleichen Spezies an. Carol war klar, dass Rene ihr keine Hilfe sein würde, aber sie wollte sie dabeihaben. Sie war ihr Halt in dieser Welt, während sie die Hände nach der nächsten ausstreckte. Sie fürchtete, dass ein Augenblick kommen könnte, in dem sie den Bezug zu beiden Welten verlieren und allein im freien Fall durch den Raum stürzen würde.
    Vielleicht erkannte Morianna dieses Bedürfnis in ihr. »Wie sie wünscht!«, sagte die Älteste, und sofort ließen Gerlinde und Jeanette Rene los.
    Als sie aus dem Zimmer gingen und Rene nur noch zusammenhanglos vor sich hin brabbelte, krampfte sich die Furcht wie eine eiskalte Faust um Carols Rückgrat. Sie musste Rene aus ihren Gedanken verbannen. Es stand zu viel auf dem Spiel, und sie konnte es sich nicht erlauben, auch nur einen Moment in ihrer Aufmerksamkeit nachzulassen.
    Als die Frauen in den dritten Stock kamen, entfachte Morianna wieder ein Feuer. Alle bis auf Carol und Chloe setzten sich auf dieselben Plätze wie in der vorherigen Nacht. Heute Abend befand sich Carol direkt gegenüber von André. Sie konnte ihn nun deutlich sehen und fand die Beobachtungen, die sie vorhin im Keller gemacht hatte, bestätigt. Er sah furchtbar dünn aus, nur noch Haut und Knochen, das  Gesicht leichenblass und leicht wütend. Er hatte die Lippen zusam mengepresst und starrte sie aus fiebrigen Augen an. Sie hatte den  Eindruck, einen ausgehungerten Hund vor sich zu haben, dessen  Blick wie gebannt an einem Stück Fleisch hing. Nur dass Rene ständig  ihre Position veränderte, lenkte ihn von Zeit zu Zeit von ihr ab. Mit  geschlossenen Augen wand sich ihr betrunkener Körper, dem seinen  so nah, hin und her. Carol wusste, dass Renes Blut für André eine  große Versuchung darstellte. Er fand es mindestens ebenso verlockend  wie das ihre.
    Hinter André gab die lange verglaste Wand den Blick auf die schwankenden Pinien und Zedern frei, die den Hang bedeckten. In der verspiegelten Decke konnte Carol über die Baumwipfel blicken. Der Mond nahm zu heute Nacht, und sie dachte an die alten Mythen, die den Wahnsinn mit dem Vollmond in Verbindung brachten.
    In der rechten Ecke des Raumes saß Chloe und zerstieß mit einem weißen steinernen Stößel Kräuter in einem marmornen Mörser. Als sie damit fertig war, gab sie sie in eine schwere gusseiserne Teekanne, goss kochendes Wasser aus dem elektrischen Wasserkocher dazu und ließ die Kräuter ziehen. Nach ein paar Minuten filterte sie den Tee in eine große schwarze Holzschale, die sie vor Carol auf den Teppich stellte, vor die rote Rose, die, nun in voller Blüte, zwischen ihr und André lag.
    Nachdem Chloe ihren Platz hinter André eingenommen hatte, sagte Morianna: »Du musst von André empfangen!«
    Nicht schon jetzt!, dachte Carol. Aber sie war fest entschlossen, heute Nacht nicht zu zögern. Also stand sie auf, ging zu ihm und kniete sich vor ihn hin. Sie vermochte ihm nicht in die eiskalten stahlgrauen Augen zu blicken. Er hob eine bebende Hand. Über Nacht waren seine Nägel zu gelben messerscharfen Klauen gewachsen. An seinen Armen zeichneten sich die Venen blau unter der Haut ab. Der Geruch, der von ihm ausging, erinnerte sie an feuchte Erde.
    Sie sah zu, wie er sich die
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