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Kind der Hölle

Kind der Hölle

Titel: Kind der Hölle
Autoren: John Saul
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sterbenden Greisin, sondern dem, was dahinter zu erkennen war.
    Obwohl sie ihn nie zuvor gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort.
    Der Tod trat endlich aus dem Nebel hervor, um sie zu holen.
    Sie hatte ihn sich stets als Knochenmann vorgestellt, in einen schwarzen Mantel gehüllt, eine riesige Kapuze tief in die Stirn gezogen, unter der eisige Augen glühten. Doch die Gestalt, die sich ihr jetzt näherte, sah ganz anders aus als die Schreckensvision. Dieser Geist trug keine Kapuze, sein weites silbernes Gewand hatte einen anmutigen Faltenwurf und schimmerte bei jeder Bewegung, und das milde Lächeln verlieh dem Antlitz einen goldenen Glanz. Der Engel breitete die Arme weit aus, so als wollte er Cora tröstend an seine Brust drücken. Sie hatte immer Angst vor dem Tod gehabt, weil sie überzeugt war, daß in der Ewigkeit noch viel schlimmere Qualen als im Diesseits auf sie warteten, aber angesichts der Lichtgestalt verflogen diese Befürchtungen.
    Instinktiv griff sie nach dem kleinen goldenen Kreuz, das an einer dünnen Kette um ihren Hals hing, und als sie es berührte, fielen ihr zum erstenmal seit unzähligen Jahren die Worte des Menschen ein, der es ihr geschenkt hatte: Dieses Kreuz wird dich beschützen. Leg es niemals ab, bis der Engel zu dir kommt.
    Cora hatte das damals nicht verstanden, und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, im Tod keinen grimmigen Vorboten von Höllenstrafen, sondern einen gütigen Engel zu sehen, der sie von der Last ihrer Jahre befreien würde.
    Die dunklen Nebelschwaden schienen sich zu lichten, als die Gestalt näherkam.
    Cora kehrte zum Bett zurück, setzte sich auf die Kante und öffnete die oberste Nachttischschublade, die mit den kläglichen Überresten eines fast vergessenen Lebens angefüllt war: bekritzelte Zettel, aus Zeitungen und Zeitschriften herausgerissene Artikel, kleine Geschenke von Menschen, an deren Namen und Gesichter sie sich nicht mehr erinnern konnte. Die Schublade klemmte und krachte auf den Teppichboden, als Cora heftig daran zerrte. Niederkniend wühlte die alte Frau in den Sachen herum und suchte verzweifelt nach einem bestimmten Gegenstand. Sie wußte genau, daß es ungeheuer wichtig war, ihn zu finden, und sie hätte der Krankenschwester, die plötzlich das Zimmer betrat, gern erklärt, wonach sie suchte. Sie war des Redens aber so entwöhnt, daß sie kein Wort hervorbrachte, und sie konnte keinen Widerstand leisten, als die Schwester sie hochhob und ins Bett legte.
    Erst als ihr die Gurte angelegt wurden, versuchte sie sich zu wehren, doch sie zerrte vergeblich an den Lederriemen.
    Und dann fiel ihr Blick auf den Spiegel, und sie sah wieder den Todesengel. Sie ließ ihren Kopf in die Kissen sinken und beobachtete fasziniert das stetige Näherkommen des Geistes. Er trat aus dem Spiegel hervor, als das Tageslicht der Dämmerung wich, und seine Gegenwart war so tröstlich, daß sie ihn an sich gezogen und umarmt hätte, wenn die Gurte sie nicht daran gehindert hätten.
    Die Dunkelheit brach herein, und sie glaubte die Stimme des Engels zu hören, der ihr zuflüsterte, ihre Zeit sei gekommen.
    Cora bewegte mühsam die Lippen, und endlich gelang es ihr zu stammeln: »Ted … ich möchte … bitte … Ted.«
    Erschöpft von der Anstrengung, ihren Wunsch in Worte gefaßt zu haben, stieß sie einen tiefen Seufzer aus und rührte sich nicht mehr.
    Die Krankenschwester glaubte im ersten Moment, Cora Conway wäre gestorben, stellte dann aber fest, daß die Greisin noch atmete, wenngleich sehr flach. Sie schien wieder in das Halbkoma gefallen zu sein, in dem sie seit Monaten vor sich hindämmerte. Die Schwester befreite ihre Patientin von den Gurten und beschloß, gegen Ende ihrer Schicht nachzuschauen, ob der Atem der alten Frau noch schwächer geworden war. Nur in diesem Fall würde sie Coras einzigen Verwandten anrufen.
    Dieser Neffe, Ted Conway, hatte seine Tante seit Jahren nicht mehr besucht. Es wäre sinnlos, ihn zu benachrichtigen, solange nicht feststand, daß seine Tante wirklich im Sterben lag. Vielleicht würde er dann ja herkommen, um wenigstens Abschied von ihr zu nehmen.
    Ted Conway schaute auf, als im Fernseher hinter der Bar die Fünf-Uhr-Nachrichten begannen, und er beschloß, sich einen letzten Wodka-Tonic zu genehmigen, bevor er Feierabend machte. Er war müde, denn Janet beschuldigte ihn völlig zu Unrecht, daß er in der Bar nur sein Gehalt vertrank. Eine aufgeschlagene Akte bewies, daß er hier den ganzen Nachmittag über gearbeitet hatte,
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