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Kind der Hölle

Kind der Hölle

Titel: Kind der Hölle
Autoren: John Saul
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eigentlich weiterarbeiten müßte, nahm er wieder auf dem Barhocker Platz. »Einen Drink kann ich mir doch bestimmt noch genehmigen, stimmt’s?«

2. Kapitel

    Cora Conway hätte beim besten Willen nicht sagen können, seit wieviel Jahren sie nur noch auf den Tod wartete. Irgendwann, so vermutete sie, mußte es eine Zeit gegeben haben, zu der sie das Leben liebte. Alle Erinnerungen an früher waren aber längst verblaßt und schließlich von dem grauen Nebel verschluckt worden, der sich mit jedem Tag dichter um sie legte.
    Nicht daß Cora die Tage überhaupt noch gezählt hätte. Wozu auch? Sie unterschieden sich sowieso in nichts voneinander. Jeden Morgen wachte sie in ihrem Bett auf, hier in diesem Zimmer, das ihr so vertraut war, daß sie sich mühelos darin zurechtfinden könnte, auch wenn sie plötzlich das Augenlicht verlöre.
    Der Nachttisch stand links vom Bett.
    Rechts befand sich der Tisch mit der Leselampe und der Spieldose.
    Wenn sie aufstand und durch den schmalen Flur auf die Tür zum Korridor zuging – diese Tür befand sich genau in der Mitte der Nordwand ihres Zimmers -, kam sie an zwei weiteren Türen vorbei.
    Links war die Tür zum Einbauschrank, in dem sie ihre Garderobe aufbewahrte.
    Rechts war die Tür zum Bad, das sie mit der Person im Nebenraum teilte.
    Sie hatte diese Person nie gesehen und wußte nicht einmal, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelte.
    Es interessierte sie auch nicht.
    Auf der Südseite gab es ein Fenster, aber Cora hatte nie
    das Bedürfnis hinauszuschauen, denn das einzige, was sie sehen konnte, war ein anderes Fenster, nur wenige Meter entfernt, und dahinter verbarg sich ein Zimmer, das zweifellos ein Spiegelbild ihres eigenen war.
    Einst, vor langer Zeit, hatte sie sich gefragt, ob vielleicht auch die Frau, die in jenem Zimmer wohnte, ein Spiegelbild ihrer selbst war, und als sie das nächste Mal einen Blick in den Spiegel über der Kommode geworfen hatte, war sie versucht gewesen zu glauben, daß sie tatsächlich durchs Fenster in ein anderes Zimmer starrte, denn die Frau, die ihr entgegenblickte, war alt und häßlich, während sie selbst doch immer ein schönes Gesicht gehabt hatte.
    Um sich an die Hoffnung klammern zu können, nicht ihr eigenes Spiegelbild gesehen zu haben, vermied sie es seitdem, ihr Gesicht auch nur zu berühren.
    Aus demselben Grund schaute sie nie ihre Hände, ihre Füße oder ihren Körper an.
    Aus demselben Grund lag sie Tag für Tag auf dem Rücken im Bett und starrte die Decke an.
    Und wartete, daß wieder ein Tag verging.
    Wenn sie aufwachte, kam eine Frau mit dem Frühstückstablett, und Cora setzte sich auf, an die Kissen gelehnt, und verzehrte das Frühstück, krampfhaft bemüht, keinen einzigen Blick in den Spiegel zu werfen.
    Danach lag sie auf dem Rücken, bis der Junge das Mittagessen brachte.
    Sie aß und lag auf dem Rücken, bis eine andere Frau das Abendessen brachte.
    Sie redete mit niemandem, weil es ihr zuwider gewesen wäre, ihre eigene Stimme zu hören.
    Irgendwann schlief sie ein, irgendwann wachte sie wieder auf, und ein Tag glich genau dem anderen – jahraus, jahrein.
    Sie hatte keine Ahnung, wann der erste Nebel aufgezogen war. Irgendwann hatte sie registriert, daß eine Art leichter Dunst ihr Bewußtsein zu trüben begann, aber sie schenkte dieser Tatsache keine große Beachtung. Hin und wieder fiel ihr jedoch auf, daß der Nebel sich verdichtete und dunkler wurde, daß die grauen Schwaden alle Bilder ihres Lebens zu verhüllen drohten.
    Dieser Nebel, so glaubte sie, war der herannahende Tod, und sie bereitete sich darauf vor, indem sie Gott um Verzeihung für Sünden bat, die vor so langer Zeit begangen worden waren, daß sie vergessen hatte, wodurch sie sich versündigt hatte. Und sie hielt Ausschau nach dem Tod, der irgendwo im dichten Nebel lauerte, und dessen düstere Gestalt sie bald erspähen würde.
    An diesem Morgen hatte sie ihn endlich gesehen.
    Auf dem Weg vom Bett ins Bad hatte sie versehentlich einen Blick in den Spiegel über der Kommode geworfen, und obwohl sie sofort wegschaute, glaubte sie, etwas Ungewöhnliches wahrgenommen zu haben. Als sie kurze Zeit später aus dem Bad zurückkam, trat sie deshalb ganz bewußt vor den Spiegel und betrachtete ihn aufmerksam.
    Die Frau hatte keinerlei Ähnlichkeit mit ihr: tief eingesunkene, trübe Augen inmitten von runzliger Haut und nur vereinzelte weißgraue Haarsträhnen auf dem fleckigen Schädel. Doch Coras Interesse galt nicht diesem Bild einer
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