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Kim Novak badete nie im See von Genezareth

Kim Novak badete nie im See von Genezareth

Titel: Kim Novak badete nie im See von Genezareth
Autoren: Håkan Nesser
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keiner Weise schmaler geworden seit dem letzten Mal, dass wir uns gesehen hatten. Er thronte wie ein gestrandetes Walross unter einer gelben Decke, und er hatte eine ansehnliche Zahl von Schläuchen in Armen und Beinen stecken, die Nährstoffe in seine enorme Körperfülle pumpen sollten. Seine Gesichtsfarbe tendierte zu graulila wie bei einer schimmligen Pflaume, und es war schwer zu entscheiden, ob er wohl überleben würde oder nicht.
    Wie auch immer, jedenfalls schien er sehr erleichtert zu sein, mich zu sehen.
    ***
    »Und dein Vater?«, fragte ich. »Wie ist es mit dem gelaufen? Hast du irgendwann deinen leiblichen Vater aufgesucht?«
    Edmund lächelte kurz und ein wenig angestrengt.
    »Doch, ja, ich habe ihn aufgesucht«, sagte er. »Er lebte in einem Heim außerhalb von Lycksele. Er hat mich nicht wiedererkannt. Ich glaube, er hat sich gar nicht mehr dran erinnert, dass er überhaupt einen Sohn hatte. Alkoholismus und fortgeschrittene Diabetes, er starb ein paar Monate danach.«
    Ich nickte. Dachte, dass dieser Ausgang doch eigentlich ganz typisch war, und sah, dass Edmund keine Lust hatte, darüber zu reden. Weder Lust noch das Bedürfnis. Es gab anderes, das zu klären wichtiger war, bevor es zu spät war.
    Unser Gespräch brach nach einer guten halben Stunde in sich zusammen, für mehr war er einfach zu schwach, aber als wir so weit gekommen waren, sah Edmund so unglaublich friedvoll aus, wie es nur tote oder sehr kranke Menschen können. Eins der letzten Dinge, die er sagte, war: »Und es war doch ein Spitzensommer, Erik. Trotz des SCHRECKLICHEN war es ein Spitzensommer. Ich werde ihn nie vergessen.«
    »Ich auch nicht«, beteuerte ich und strich ihm zwischen zwei Kanülen über die Haut. »Nicht, solange ich lebe.«
    »Nicht, solange ich lebe«, wiederholte Edmund voller Glauben.
    Dann schlief er ein. Ich blieb noch eine Weile bei ihm und betrachtete ihn, und plötzlich war ich mir ganz sicher, dass er sich nicht mehr in dem Krankenhausbett befand, sondern in dieser lauen Nacht nach dem Liebesspiel, das wir durchs Fenster gesehen hatten, auf dem Rücken in Genezareths See schwamm.
    Wobei sich nicht leugnen lässt, dass ich hoffte, er könnte dort bleiben.
    Ich verließ ihn mit einem Gefühl der Vollendung. Bezahlte im Hotel Zäta und fuhr wieder Richtung Süden. Während der Autofahrt durch die Wälder von Dalarna und Värmland beschloss ich, die ganze Geschichte aufzuschreiben. Sie aufzuschreiben und eine Art von Ordnung hineinzubringen. Wenn es stimmt, was ich irgendwo gelesen habe, dass jeder
    Mensch eine Geschichte in sich trägt, dann musste doch eigentlich der Mord an Berra Albertsson genau meine Geschichte sein.
    Und genau genommen nicht nur meine.
    Ich fing gleich damit an, als die Sommerferien begannen, und es war Ende Juni - in der Woche nach der Mittsommernacht -, dass ich meine Forschungsreise zurück in die Landschaft meiner Kindheit antrat. Ewa war lange unschlüssig, ob sie mitfahren sollte oder nicht, aber schließlich beschloss sie, daheim zu bleiben, weil Karla überraschend und fröhlich mitgeteilt hatte, sie würde mit ihrem Franzosen zu Besuch kommen.
    Seit wir Anfang der Sechziger weggezogen waren, hatte ich keinen Fuß mehr auf diesen Boden gesetzt, und als ich an einem schönen, jasminduftenden Sommerabend in meinem Auto den Steneväg entlangrollte, war es, als würde ich mit Windeseile in einen Zeitbrunnen sinken.
    Viel hatte sich verändert, aber noch mehr war gleich geblieben. Das Haus in der Idrottsgatan hatte eine neue Fassade bekommen, aber die Farbe war die gleiche, und in unserem Küchenfenster zur Straße hin standen zwei Pelargonien, genau wie immer. Ich parkte das Auto, ging zu dem kleinen Waldstück und fand die Zementröhre im Graben.
    Niemand hatte sie seit fünfunddreißig Jahren bewegt. Ich musste mich etwas zusammenkrümmen, um in ihr Platz zu finden, aber es ging. Ich steckte mir eine Zigarette an, eine Lucky Strike, die ich im Bahnhofskiosk von Hallsberg gekauft hatte. So saß ich da drinnen, rauchte mit geschlossenen Augen, und es fehlte nicht viel, dass ich angefangen hätte zu heulen.
    Was ist ein Leben?, dachte ich. Was zum Teufel ist ein Leben?
    Ich dachte an Benny und an Bennys Mutter, an Arsch-Enok und an Balthazar Lindblom und an Edmund.
    An meine Mutter und meinen Vater.
    An Henry.
    An diesen Tag vor tausend Jahren, als Ewa Kaludis auf dem roten Puch auf den Schulhof der Stavaschule gebraust war. Kim Novak.
    An die Worte meines Vaters: Das wird ein
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