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Kielwasser

Kielwasser

Titel: Kielwasser
Autoren: Reinhard Pelte
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mochte. Es musste aus der Gründerzeit stammen, die Stilrichtung war nicht eindeutig zuzuordnen. Die Fassade war reich ornamentiert. Simse, Steinmetzarbeiten und schmiedeeiserne Geländer vor Balkonen und Austritten zierten die Vorderfront. Erst kürzlich hatte es einen neuen, strahlend weißen Außenanstrich erhalten. Es hob sich deswegen von der ebenfalls dekorativen Nachbarschaft ab.
    Jung stellte sein Auto auf dem Parkstreifen im Innenhof der Polizeiinspektion ab. Er begrüßte den diensthabenden Polizisten in der Wachstube zum Treppenaufgang.
    »Moin, Petersen. Alles ruhig?«
    »Moin, moin, Herr Kriminalrat. Keine Vorkommnisse. Fast zu ruhig. Das verheißt nichts Gutes.«
    »Haben Sie denn Anzeichen für Ihren Verdacht?«
    »Eben nicht. Das ist es ja.«
    Petersen erging sich manchmal in vagen Vermutungen, Andeutungen und Ahnungen. Oft behielt er recht. Jung nahm das kopfschüttelnd zur Kenntnis.
    »Na denn, trotzdem schönen Tag.«
    »Danke, ebenfalls, Herr Kriminalrat.«
    Jung stieg das kühle, weiß getünchte Treppenhaus zu seinem Büro im ersten Stock hinauf. Es war in der Tat ungewöhnlich still. Selbst aus der Teppichetage über ihm, auf der die Bürosuite des Leitenden lag, drang kein Laut zu ihm. Holtgreve ließ seine Bürotür in der Regel offen. Er kommunizierte mit seinen Leuten gerne per Zuruf. Sie waren gezwungen, ebenfalls die Türen zu ihren Arbeitsräumen offen zu halten. Andernfalls setzten sie sich der Gefahr aus, den Unmut des Chefs auf sich zu ziehen oder aus der Kommunikationskette von oben nach unten ausgeschlossen zu werden.
    Der Leitende war heute offensichtlich außer Haus. Es kam hin und wieder vor, dass er beim Polizeipräsidenten in Kiel Vieraugengespräche führte. In Jungs Vorstellung kamen diese Gespräche der Entgegennahme neuer Anweisungen und Direktiven gleich, die man nicht einem Papier anvertrauen und damit aktenkundig machen wollte.
    Er betrat seinen Arbeitsraum, öffnete die Fenster und ließ die frische, vom langen Regen sauber gewaschene Luft in den Raum. Der Blick auf die Förde belebte ihn, was man von der Atmosphäre in seinem Büro nicht behaupten konnte.
    Im Gegensatz zur Teppichetage hatten auf seinem Flur die hölzernen Böden keine Teppichauflage. Über die Jahre waren die Holzdielen strapaziert worden. Das Mobiliar war zweckdienlich und ohne Geschmack, fast armselig. Jung hatte alles entfernt, was er nicht brauchte. Übrig geblieben waren sein Schreibtisch, ein Aktenschrank, ein Aktenbock und außer seinem Bürosessel ein einfacher Besucherstuhl.
    Früher hatte Jung sich über die schäbige Ausstattung aufgeregt. Sie bildete einen grotesken Kontrast zu den geräumigen, hohen und stuckverzierten Zimmern. Jetzt ertappte er sich dabei, es gut zu finden, wie es war. Er wurde nicht abgelenkt und konnte sich konzentrieren. Und da er ohnehin nur einen Teil seiner Arbeitszeit hier verbrachte, hatte er auf jede persönliche Note verzichtet. Es hätte nicht zu ihm gepasst, Bilder von Frau und Kindern auf seinem Schreibtisch aufzustellen oder seine Diplome und Zeugnisse an die Wand zu nageln.
    Er schloss die Tür und machte es sich an seinem Schreibtisch so gut es ging bequem. Die Telefonnummer des Marineoffiziers in Dschibuti hatte er irgendwo in seinen Schreibtischschubladen aufbewahrt. Auf der Suche danach fiel ihm das Foto des Afrikaners in die Hände, das er seiner Zeit aus der erkennungsdienstlichen Akte des Innenministeriums erhalten hatte.
    Obwohl die Fotos in der Regel schlecht ausfielen und jeden wie einen Verbrecher aussehen ließen, der einmal vor die Linse des Erkennungsdienstes gezwungen worden war, sah der Somali ungewöhnlich freundlich in die Kamera. Sein Gesichtsausdruck erweckte beim Betrachter spontane Sympathie. Jung konnte keine emotionale Verbindung herstellen zwischen dem Foto und den Taten, deren der Abgebildete bezichtigt wurde.
    Unter dem Foto fand er den Zettel, auf den er die Nummer Jungmanns notiert hatte. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und überdachte noch einmal, was er vorhatte. Gestern, auf der Fahrt nach Hause, hatten ihn erste Zweifel befallen. Welchen Dienstgrad sollte er eigentlich bekommen? Er konnte als Gefreiter nicht in einem Einsatzstab für Presse und Information verantwortlich sein. Das schien ihm sonnenklar. Er hatte von dem Metier keine Ahnung. Allein die Vorstellung, er müsse eine Legende für sich erfinden und über die Zeit durchhalten, verursachte ihm Unbehagen. Aus diesem Blickwinkel kam ihm sein Vorhaben albern
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