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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel
Autoren: Dennis Lehane
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einem langsamen Tod.«
    Devin sah zuerst Oscar, dann mich an. »Ich kann mir das nicht länger anhören.«
    »Bitte!« Angies Ruf klang wie das Pfeifen eines Wasserkessels. Ihr Gesicht sank in sich zusammen.
    Ich hielt sie an den Armen fest. »Angie«, sagte ich sanft, »vielleicht irrst du dich mit Helene. Sie hat dazugelernt. Sie weiß, daß sie eine schlechte Mutter war. Wenn du sie in der Nacht gesehen hättest, als ich…«
    »Leck mich am Arsch!« sagte sie mit eiskalter Stimme. Sie entzog mir die Arme und wischte sich mit einer heftigen Bewegung die Tränen aus dem Gesicht. »Erzähl mir bloß nicht diese Scheiße, wie traurig sie ausgesehen hat. Wo hast du sie denn getroffen, Patrick, he? In einer Kneipe, oder? Ich scheiß’ auf dich und diesen Blödsinn, daß Menschen sich bessern können. Menschen lernen nichts dazu. Sie ändern sich nicht.«
    In ihrer Tasche kramte sie nach den Zigaretten.
    »Wir haben nicht das Recht, darüber zu urteilen«, bemerkte ich. »Wir können…«
    »Wer hat denn dann das Recht?« wollte Angie wissen.
    »Die beiden auf jeden Fall nicht.« Ich wies auf das Haus hinter den Bäumen. »Diese Menschen haben beschlossen, andere danach zu beurteilen, ob sie in der Lage sind, ein Kind aufzuziehen. Was gibt Doyle das Recht, so eine Entscheidung zu fällen? Was passiert, wenn er sieht, daß ein Kind nach den Regeln einer Religion erzogen wird, die ihm nicht gefällt? Was passiert, wenn er keine Eltern mag, die schwul oder schwarz oder tätowiert sind? Was dann?«
    Eisiger Zorn umwölkte ihr Gesicht. »Darüber sprechen wir hier nicht, und das weißt du ganz genau. Wir reden über diesen besonderen Fall und über dieses besondere Kind. Komm mir nicht mit deiner hochtrabenden Kackphilosophie, die dir die Jesuiten in der Schule eingetrichtert haben. Du hast einfach nicht den Mumm, das Richtige zu tun, Patrick. Keiner von euch. So einfach ist das. Ihr habt keinen Mumm.«
    Oscar blickte zu den Bäumen auf. »Stimmt vielleicht.«
    »Los!« sagte sie. »Nehmt sie fest. Aber ich werde nicht dabei zusehen.« Sie zündete die Zigarette an und drückte ihren Rücken durch. Mit der Zigarette zwischen den Fingern umklammerte sie die Griffe ihrer Krücken.
    »Dafür werd’ ich euch drei hassen!«
    Sie humpelte davon, und wir sahen ihr nach, wie sie durch den Wald zum Auto ging.
    In all meinen Jahren als Privatdetektiv war noch nie etwas so furchtbar oder aufreibend, wie Oscar und Devin dabei zuzusehen, als sie Jack und Tricia Doyle in der Küche ihres Hauses verhafteten.
    Jack versuchte nicht einmal, sich zu wehren. Zitternd saß er auf dem Küchenstuhl. Er weinte, und Tricia kratzte Oscar, der ihr Amanda aus den Armen riß. Amanda kreischte und schlug mit den Fäusten auf Oscar ein. »Nein, Oma! Nein! Ich will nicht mit! Ich will hierbleiben!«
    Der Sheriff reagierte auf Devins zweiten Anruf und kam wenige Minuten später die Auffahrt hochgefahren. Beim Betreten der Küche schaute er verwirrt: Amanda lag wie leblos in Oscars Armen, und Jack hatte den Kopf auf Tricias Bauch gelegt. Sie schaukelte ihn, und er weinte.
    »O mein Gott«, flüsterte Tricia, der klar wurde, daß das Leben mit Amanda, die Freiheit, daß einfach alles ein Ende gefunden hatte.
    »O mein Gott«, wiederholte sie, und ich fragte mich, ob Er sie wohl hörte, ob Er Amanda an Oscars Brust wimmern hörte, ob Er Devin hörte, der Jack die Rechte verlas, ob Er überhaupt etwas hörte.

EPILOG
    Das große Wiedersehen
    Das große Wiedersehen, wie sich die News am nächsten Morgen in ihrer Schlagzeile ausdrückte, wurde am Abend des 7. April um 20.05 Uhr auf allen lokalen Kanälen live übertragen.
    Im hellen Scheinwerferlicht sprang Helene von der Veranda, kämpfte sich durch die Menge von Journalisten und empfing Amanda aus den Händen einer Sozialarbeiterin. Sie stieß einen Schrei aus, die Tränen rannen ihr übers Gesicht, sie küßte Amanda auf Wange und Stirn, Augen und Nase.
    Amanda schlang die Arme um den Hals ihrer Mutter und vergrub das Gesicht an ihrer Schulter. Mehrere Nachbarn brachen in frenetischen Beifall aus. Orientierungslos sah Helene auf. Dann begann sie schüchtern und vorsichtig zu lächeln, blinzelte in die Lichter, streichelte ihrer Tochter über den Rücken, und ihr Lächeln wurde breiter.
    Bubba stand vor meinem Fernseher im Wohnzimmer und sah zu mir herüber.
    »Dann ist ja wohl alles in Ordnung«, sagte er. »Oder?« Ich nickte in Richtung Fernsehen. »Sieht ganz so aus.« Er sah sich um, als Angie mit einer
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