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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel
Autoren: Dennis Lehane
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paßt auf den Kleinen auf, wenn Rachel arbeiten muß, und einmal hat sie Dalton Voy erzählt, daß es mit Sicherheit keinen besser erzogenen Jungen gebe, der seine Mom so aufrichtig liebt. Sie meint, aus dem Kleinen wird mal was ganz Besonderes. Präsident oder so. Ein Kriegsheld. Denk an meine Worte, Dalton. Denk dran!
    Eines Abends macht Dalton seinen täglichen Spaziergang in Boynton’s Cove und entdeckt Mutter und Sohn. Rachel steht bis zur Hüfte im warmen Wasser und hält den jungen unter den Achseln fest, läßt ihn immer wieder ins Wasser plumpsen. Das Meer ist golden, seidenglatt in der untergehenden Sonne, und es scheint Dalton, als bade Rachel ihren Sohn in Gold, als führe sie ein altes Ritual durch, das der Haut des Kindes einen Schutz verleiht, so daß sie nicht durchbohrt oder verletzt werden kann.
    Die beiden lachen in der bernsteingelben See, hinter ihnen versinkt die rote Sonne. Rachel küßt ihren Sohn auf den Hals und verschränkt seine Waden hinter ihrem Rücken. Er lehnt sich in ihren Armen zurück. Sie sehen sich in die Augen.
    Dalton glaubt, vielleicht noch niemals etwas so Schönes wie diesen tiefen Blick zwischen den beiden gesehen zu haben.
    Rachel bemerkt ihn nicht, und Dalton winkt ihr auch nicht zu. Er fühlt sich wie ein Eindringling. Er hält den Kopf gesenkt und geht den Weg wieder zurück.
    Wenn man Liebe in einer so reinen Form sieht, löst das etwas aus. Man fühlt sich klein. Man fühlt sich häßlich, beschämt und unwürdig.
    Als Dalton Voy Mutter und Sohn beim Spielen im bernsteinfarbenen Wasser beobachtete, erkannte er eine schlichte, einfache Wahrheit: Niemals, keine Sekunde lang, war er in seinem Leben so geliebt worden.
    So geliebt? Verdammt! Diese Liebe war so rein, daß sie fast schon kriminell war.

ERSTER TEIL
    Indian Summer 1997

1
    Jeden Tag werden in diesem Land 2.300 Kinder als vermißt gemeldet.
    Ein Großteil davon wird von einem Elternteil entführt, wenn sich Vater und Mutter auseinandergelebt haben, und in mehr als fünfzig Prozent der Fälle steht der Aufenthaltsort der Kinder von Anfang an fest. Die meisten dieser Kinder kehren innerhalb einer Woche nach Hause zurück.
    Ein anderer Teil von diesen 2.300 Kindern sind Ausreißer. Auch diese sind meistens nicht lange verschwunden; und ihr Aufenthaltsort ist entweder bekannt oder wird schnell entdeckt - häufig halten sie sich bei Freunden auf.
    Die nächste Kategorie vermißter Kinder sind die Ausgestoßenen - sie werden zu Hause herausgeworfen oder laufen davon, doch machen sich die Eltern nicht die Mühe, nach ihnen zu suchen. Dies sind oft die Kinder, die Notunterkünfte, Busbahnhöfe, Straßenecken in Rotlichtvierteln und schließlich die Gefängnisse bevölkern.
    Von mehr als 800.000 Kindern, die jedes Jahr landesweit als vermißt gemeldet werden, fallen nur 3.500 bis 4.000 in die Kategorie, die das Justizministerium »nicht familienbedingte Entführungen« nennt. Das sind Fälle, in denen die Polizei schnell eine Entführung durch einen Elternteil, Flucht, elterliche Ablehnung oder einen Unfall des Kindes ausschließen kann.
    Von diesen Fällen verschwinden jährlich 300 Kinder und kehren nie zurück.
    Niemand - weder die Eltern, Freunde, der Arm des Gesetzes, Kinderhilfsorganisationen noch Vermißtenberatungsstellen - weiß, wo diese Kinder sind. Vielleicht unter der Erde, in Kellern von Pädophilen, im Nichts - aufgesaugt von einem schwarzen Loch. Nie wieder wird man von ihnen hören.
    Wo immer diese 300 Kinder sind, sie kehren nicht zurück. Eine Zeitlang bedrückt ihr Verschwinden Fremde, die von dem Fall gehört haben; ihre Angehörigen quält es viel länger.
    Ohne eine Leiche als Beweis für ihren Tod gelten sie nicht als verstorben. Die Leere, die sie hinterlassen, gemahnt uns an sie.
    Und sie kehren nicht zurück.
    »Meine Schwester«, sagte Lionel McCready und ging in unserem Büro im Glockenturm auf und ab, »hat ein schweres Leben gehabt.« Lionel war ein großer Mann mit hündisch herabhängenden Wangen und breiten Schultern, die nach vorne fielen, so als laste etwas unheimlich Schweres auf ihm. Er lächelte unsicher und schüchtern und grüßte uns mit einem festen Händedruck. Lionel trug die braune Uniform eines UPS-Angestellten und knetete den Rand der dazu passenden braunen Baseballkappe in seinen fleischigen, schwieligen Händen. »Unsere Mutter war eine, tja, eine Säuferin, um ehrlich zu sein. Und unser Vater ist abgehauen, als wir noch ganz klein waren. Bei so einer Kindheit hat
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