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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel
Autoren: Dennis Lehane
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Da hatte sie die erste von drei Abtreibungen bereits hinter sich. Seitdem hatte sie viele verschiedene Jobs gehabt -Kassiererin im Supermarkt, Angestellte bei Chess King, Aushilfe in einer Reinigung, Empfangsdame bei UPS -, doch nie hatte sie es geschafft, länger als achtzehn Monate durchzuhalten. Seit ihre Tochter verschwunden war, war sie nicht mehr zu ihrer Arbeit bei Li’l Peach gegangen, wo sie die Lotteriemaschine bediente, und es sah nicht so aus, als würde sie die Arbeit dort wieder aufnehmen.
    »Aber sie hat das kleine Mädchen geliebt«, beharrte Lionel.
    Beatrice sah aus, als sei sie anderer Meinung, schwieg jedoch.
    »Wo ist Helene jetzt?« erkundigte sich Angie.
    »Bei uns zu Hause«, erwiderte Lionel. »Der Anwalt, den wir gefragt haben, meinte, wir sollten sie besser so lange wie möglich bei uns verstecken.«
    »Warum?« fragte ich.
    »Warum?« wiederholte Lionel.
    »Ja. Ich meine, ihre Tochter ist verschwunden. Wäre es da nicht besser, wenn sie an die Öffentlichkeit ginge? Wenn sie wenigstens in der Nachbarschaft herumfragen würde?«
    Lionel öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Dann sah er auf seine Schuhe.
    »Helene ist dazu nicht in der Lage«, erklärte Beatrice.
    »Warum nicht?« fragte Angie.
    »Weil, na ja, weil sie halt Helene ist«, wich Beatrice aus.
    »Überwacht die Polizei ihr Telefon, falls ihr eine Lösegeldforderung gestellt wird?«
    »Ja«, bestätigte Lionel.
    »Und sie ist nicht da«, warf Angie ein.
    »Es wurde zuviel für sie«, sagte Lionel. »Sie brauchte ihre Ruhe.« Er streckte die Hände aus und sah uns an.
    »Oh«, entfuhr es mir. »Ihre Ruhe.«
    »Natürlich«, bemerkte Angie.
    »Hören Sie zu« - Lionel bearbeitete wieder seine Kappe -, »ich weiß, wie sich das anhört. Echt. Aber nicht alle Leute zeigen ihre Trauer auf die gleiche Weise, stimmt’s?«
    Ich nickte halbherzig. »Wenn sie dreimal abgetrieben hat«, begann ich wieder, und Lionel zuckte zusammen, »warum hat sie sich dann entschieden, Amanda zur Welt zu bringen?«
    »Ich glaube, sie war der Ansicht, daß es an der Zeit war.« Er beugte sich vor, und sein Gesicht leuchtete auf. »Wenn Sie gesehen hätten, wie aufgeregt sie während der Schwangerschaft war. Ich meine, ihr Leben hatte plötzlich einen Sinn, verstehen Sie? Sie war überzeugt, daß durch das Kind alles besser würde.«
    »Für sie schon«, ergänzte Angie. »Aber für das Kind?«
    »Hab’ ich damals auch gesagt«, ließ sich Beatrice vernehmen.
    Lionel wandte sich den beiden Frauen zu, die Augen verzweifelt aufgerissen. »Die beiden taten sich gut. Da bin ich mir ganz sicher.«
    Beatrice blickte auf ihre Schuhe herunter. Angie sah aus dem Fenster.
    Lionel wandte sich wieder an mich. »Wirklich.«
    Ich nickte, und sein Hundegesicht fiel vor Erleichterung in sich zusammen.
    »Lionel«, Angie sah noch immer aus dem Fenster, »ich habe die ganzen Berichte in den Zeitungen gelesen. Niemand scheint zu wissen, wer Amanda entführt haben könnte. Die Polizei steht vor einem Rätsel, und wenn man den Berichten glauben darf, hat auch Helene nicht die leiseste Ahnung.«
    »Ich weiß.« Lionel nickte.
    »Gut, in Ordnung.« Angie wandte sich vom Fenster ab und blickte Lionel an. »Was, glauben Sie, ist passiert?«
    »Ich weiß es nicht«, erwiderte er und verdrehte die Baseballkappe in seinen großen Händen so heftig, daß ich befürchtete, sie würde zerreißen. »Es kommt mir fast vor, als ob sie vom Erdboden verschluckt wurde.«
    »Hat Helene zur Zeit eine Beziehung?«
    Beatrice schnaubte verächtlich.
    »Hat sie eine feste Beziehung?« hakte ich nach.
    »Nein«, sagte Lionel.
    »In der Zeitung wird angedeutet, sie hätte sich mit ein paar unappetitlichen Gestalten herumgetrieben«, erwähnte Angie.
    Lionel zuckte mit den Schultern, als sei das die normalste Sache der Welt.
    »Sie hängt öfter im Filmore Tap rum«, erklärte Beatrice.
    »Das ist das schlimmste Loch in Dorchester«, bemerkte Angie.
    »Und um diese Ehre kämpfen nicht gerade wenige Kneipen«, ergänzte Beatrice.
    »So schlimm ist es doch auch nicht.« Lionel sah mich hilfesuchend an.
    Ich streckte die Hände aus. »Lionel, ich laufe ständig mit einer Waffe herum. Und trotzdem werde ich nervös, wenn ich ins Filmore gehe.«
    »Das Filmore hat einen Ruf als Junkie-Kneipe«, fuhr Angie fort. »Angeblich verticken sie dort Koks und Heroin wie anderswo Bier. Hat Ihre Schwester Probleme mit Drogen?«
    »Meinen Sie Heroin?«
    »Sie meinen alles!« erklärte ihm Beatrice.
    »Sie raucht
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