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Kebabweihnacht

Kebabweihnacht

Titel: Kebabweihnacht
Autoren: Lale Akgün
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er lebte. Und dort, wo er lebte, nicht von Heimat sprechen durfte. Dem immerzu gesagt wurde, seine Heimat sei in der Türkei. Aber die Türkei war weit weg, weg von seiner Wirklichkeit. Das war eine Heimat, die er nicht riechen und nicht anfassen konnte, die nicht da war, wenn er traurig war oder fröhlich, in der er nicht jauchzen und auch nicht weinen konnte.
    Nein, das alles war für ihn nicht möglich. Das ließ weder die eine noch die andere Seite zu.
    »Wo kommst du denn her? Wo kommen deine Eltern her? Wo bist du zu Hause? Du hast es doch bestimmt gerne heiß, wo du doch in der Türkei zu |33| Hause bist!« In den Augen seiner deutschen Mitmenschen war es anscheinend nicht möglich, in Deutschland, in dieser Stadt, in dieser Kultur, zu Hause zu sein. »Ihr habt ja eine andere Kultur!« Woran machten seine gleichaltrigen Kollegen das fest? Wie leicht kam ihnen das über die Lippen: Du hast ja eine andere Kultur! War das Ausgrenzung in schönen Worten? Ja, das war es, und es war so leicht, jemanden mit Worten auszugrenzen: Du bist anders, also bleib bitte auf Abstand mit deiner anderen Kultur!
    Haben wir eine andere Kultur? Habe ich das? Wenn ja, wo ist sie, diese andere Kultur?
    Von dieser anderen Kultur sprachen nicht nur die Deutschen, sondern auch seine Eltern und Verwandten. Auch sie sagten: »Wir haben eine andere Kultur!« Doch Umut fragte sich: Haben wir das? Und wenn ja, wo finde ich sie? Auf Hochzeitsfeiern? Im Folkloreunterricht? Was ist, wenn ich nicht tanzen mag? Was habe ich von einer Kultur, in der ich nicht leben kann, die ich nicht um mich habe, die mir nicht jeden Tag Kraft und Trost gibt?
    Umut fand diese Kultur nicht mehr, nicht da, wo er aufwuchs und lebte, er fand sie auch nicht in den Ferien, wenn er in der Türkei war. Dort, wo seine Altersgenossen von Dingen sprachen, die ihn nicht wirklich interessierten, wo er Interesse heucheln musste, um dazuzugehören. Wie arm war das denn?
    Genauso arm fand er das Verhalten einiger seiner Altersgenossen, die permanent davon sprachen, wie toll und überlegen die türkische Kultur sei. Woran |34| spürt ihr das, dass die eine Kultur der anderen überlegen ist? Das wollte er oft fragen, aber er traute sich nicht, weil er fürchtete, noch mehr zum Außenseiter abgestempelt zu werden.
    Manchmal, auf türkischen Hochzeiten, wenn die nicht enden wollenden, ewiggleichen Lieder gespielt und dazu die ewiggleichen Tänze getanzt wurden, fragte er sich, ob das, was hier zu besichtigen war, die überlegene Kultur sei.
    Wo war die Heimat? Die das Gefühl der Geborgenheit, des Dazugehörigseins, des Angenommenwerdens verbreitete? – Für Umut war das die Weihnachtszeit. Weihnachten war seine selbstgebastelte Heimat.

|35| D IE HÜTER VON Umuts selbstgewählter Heimat waren die Rohowskys. In den beiden »alten Leutchen«, wie sie sich selbst bezeichneten, hatte er die passenden Großeltern gefunden. Das richtete sich nicht gegen seine Oma, die er ebenfalls liebte; sie und die Rohowskys nahmen einander nichts weg, sie ergänzten sich in der Gesamtkonstruktion seiner Welt.
    Die Rohowskys stammten aus Westpreußen. Sie waren selber Flüchtlinge gewesen nach dem Zweiten Weltkrieg, und so hatten sie ein tieferes Verständnis für ihre türkischen Nachbarn als andere.
    »Ich weiß, wie das ist, wenn man die Heimat verliert«, pflegte Oma Rohowsky zu sagen, und obwohl Umuts Familie immer wieder davon sprach, dass die wirkliche Heimat ja da sei, zwar weit entfernt, aber jederzeit griffbereit durch Telefon und Mail – die Wirklichkeit war eine andere. Auch wenn sie es vor sich selber und den anderen verleugneten – sie lebten nun mal in dieser Stadt; Arif seit seiner Jugend und Hülya auch schon seit über zwanzig Jahren. Die Bindungen in die sogenannte Heimat wurden immer loser, und die in die neue Umgebung sollten immer intensiver werden.
    |36| Sie sollten … und sie würden auch, wenn nicht – jetzt musste Umut wieder an den merkwürdigen Verein denken, in dem sein Vater ein und aus ging –, ja, wenn nicht einige Leute das verhindern würden. Im Falle seines Vaters waren die Verhinderer auch erfolgreich, er hatte nur noch Kontakte zu den Leuten aus seinem Verein. »Verein« ist das falsche Wort, dachte Umut. Es ist eine Sekte, eine richtige Sekte. Da wollen sie natürlich nicht, dass er sich mit anderen Leuten austauscht, denn dann würde ja rauskommen, dass sie meinem Vater und allen anderen nur Mist erzählen. NUR MIST – dachte er, bevor er bei den Rohowskys
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