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GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit

GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit

Titel: GOLIATH - Die Stunde der Wahrheit
Autoren: S Westerfeld
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1. KAPITEL
    »Sibirien«, sagte Alek. Das Wort kam kalt und hart über seine Lippen, so bedrohlich wie die Landschaft, die unter ihnen dahinzog.
    »Sibirien werden wir frühestens morgen erreichen.« Dylan saß am Tisch und kämpfte noch immer mit seinem Frühstück. »Und es wird fast eine Woche dauern, es zu überfliegen. Russland ist brüllend groß .«
    »Und kalt«, ergänzte Newkirk. Er stand neben Alek am Fenster der Kadettenmesse und hielt mit beiden Händen eine Tasse Tee umfasst.
    »Kalt«, wiederholte Bovril. Das Wesen packte Aleks Schulter ein wenig fester, und ein Schauer lief durch seinen Körper.
    Anfang Oktober lag unten auf dem Boden noch kein Schnee. Aber der Himmel war eisig und wolkenlos blau. An den Rändern des Fensters hatte sich Raureif gebildet, ein Überrest der frostigen Nacht.
    Noch eine Woche, die wir über diese Ödnis fliegen, dachte Alek. Fort von Europa und dem Krieg, fort von seinem eigenen Schicksal. Die Leviathan war nach Osten unterwegs, vermutlich in Richtung des Kaiserreiches Japan, aber niemand wollte ihm dieses Ziel bestätigen. Obwohl er den Briten in Istanbul geholfen hatte, betrachteten die Offiziere des Luftschiffs ihn weiterhin halb als Gefangenen. Er war der Mechanisten-Prinz, sie die Darwinisten, und der Große Krieg zwischen ihren Technologien breitete sich jeden Tag weiter auf dem Erdball aus.
    »Es wird noch viel kälter, wenn wir nach Norden abdrehen«, meinte Dylan mit vollem Mund. »Du solltest die Kartoffeln essen. Die halten warm.«
    Alek wandte sich um. »Aber wir sind schon nördlich von Tokio. Warum weichen wir von unserem Kurs ab?«
    »Wir sind hundertprozentig auf Kurs«, erwiderte Dylan. »Mr. Rigby hat uns letzte Woche eine Großkreisroute planen lassen, und die hat uns rauf bis nach Omsk geführt.«
    »Eine Großkreisroute?«
    »Ein Trick von Navigatoren«, erklärte Newkirk. Er hauchte auf das Glas vor sich und malte mit der Fingerspitze einen auf dem Kopf stehenden lächelnden Mund. »Die Erde ist rund, Papier ist allerdings flach, ja? Ein gerader Kurs sieht daher wie eine Kurve aus, wenn man ihn auf einer Karte einzeichnet. So landet man immer weiter im Norden, als man denkt.«
    »Außer auf der anderen Seite des Äquators«, ergänzte Dylan. »Da ist es genau anders herum.«
    Bovril lachte glucksend, als wären Großkreisrouten etwas Lustiges. Aber Alek hatte nichts davon verstanden – nicht, dass man es von ihm erwartet hätte.
    Es war zum Aus-der-Haut-Fahren. Vor zwei Wochen hatte er bei einer Revolution gegen den osmanischen Sultan, den Herrscher eines uralten Reiches, mitgewirkt. Den Rebellen waren Aleks Rat, seine Fähigkeiten als Pilot und sein Gold willkommen gewesen. Und zusammen hatten sie gesiegt.
    Aber hier auf der Leviathan war er Ballast – Wasserstoffverschwendung, wie die Mannschaft alles nutzlose Gewicht nannte. Er hätte seine Tage mit Dylan und Newkirk verbringen können, aber er war kein Kadett. Er konnte nicht mit einem Sextanten umgehen, keine anständigen Knoten machen oder die Schiffhöhe schätzen.
    Und am schlimmsten war, dass man ihn auch in den Triebwerkskapseln nicht mehr brauchte. In dem Monat, in dem er die Revolution in Istanbul plante, hatten die Maschinisten der Darwinisten alles über die Mechanisten-Mechanik gelernt. Hoffman und Klopp wurden ebenfalls nicht mehr zu Hilfe gerufen, daher musste er nicht einmal mehr als Dolmetscher einspringen.
    Seit er an Bord gekommen war, hatte Alek davon geträumt, irgendwie auf der Leviathan zu dienen. Aber alles, was er anzubieten hatte, einen Läufer lenken, Fechten, sechs Fremdsprachen und die Eigenschaft, Großneffe eines Kaisers zu sein, schien auf einem Luftschiff von wenig Wert zu sein. Ohne Zweifel war er als junger Prinz, der famos die Seiten gewechselt hatte, wertvoller denn als Flieger.
    Es war fast, als wäre allen daran gelegen, ihn als Wasserstoffverschwendung abzustempeln.
    Da fiel Alek ein Sprichwort ein, das sein Vater häufig benutzt hatte: Der einzige Weg, etwas gegen seine Unwissenheit zu tun, besteht darin, sie zuzugeben.
    Er holte tief Luft. »Ich weiß wohl, die Erde ist rund, Mr. Newkirk. Aber diese Sache mit der ›Großkreisroute‹ verstehe ich nicht.«
    »Das ist toteneinfach, wenn man einen Globus vor der Nase hat«, sagte Dylan und schob den Teller von sich. »Im Navigationsraum gibt es einen. Wir schleichen uns hinein, wenn die Offiziere nicht da sind.«
    »Einverstanden.« Alek wandte sich wieder dem Fenster zu und faltete die Hände hinter dem
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