Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kaylee

Kaylee

Titel: Kaylee
Autoren: R Vincent
Vom Netzwerk:
und hielten sich die Ohren zu. Wirbelten erschrocken herum. Selbst Emma wich entsetzt zurück. Sie hatte mich noch nie schreien hören – mit ihrer Hilfe hatte ich eine solche Katastrophe bisher immer vermieden.
    „Kaylee?” Ich sah, dass sich ihre Lippen bewegten, konnte sie aber nicht hören. Außer meinem Schrei hörte ich gar nichts.
    Ich schüttelte den Kopf, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie besser abhauen sollte – sie konnte mir nicht helfen. Aber das Denken fiel mir schwer. Ich konnte nur schreien, tränenüberströmt, den Mund so weit aufgerissen, dass mir die Kiefergelenke wehtaten. Es war unmöglich, den Mund zu schließen. Unmöglich, mit dem Schreien aufzuhören. Ich schaffte es nicht einmal, die Lautstärke zu reduzieren.
    Um mich herum brach Chaos aus. Mütter packten ihre Kinder und zerrten sie von mir weg. Ich sah schmerzverzerrte Gesichter. Auch mein Kopf schmerzte, als hätte mir jemand eine Lanze durchs Gehirn gejagt.
    Geh weg , flehte ich die Mutter des kahlköpfigen Jungen im Stillen an. Doch sie rührte sich nicht, blieb entsetzt und wie gelähmt von meinem akustischen Angriff stehen.
    Aus dem Augenwinkel erahnte ich eine Bewegung. Zwei Männer in Uniform rannten auf mich zu, einer davon schrie etwas in sein Funkgerät und hielt sich mit der anderen Hand das Ohr zu. Dass er schrie, konnte ich nur seiner roten Gesichtsfarbe entnehmen.
    Die Männer schubsten Emma zur Seite, und sie ließ es widerstandslos geschehen. Beide redeten wie verrückt auf mich ein, aber ich hörte nichts. Ich konnte ihnen nur ein paar einzelne Wörter von den Lippen ablesen.
    „… hör auf …”
    „… verletzt?”
    „… Hilfe …”
    In mir tobte ein wahrer Sturm aus Angst und Trauer. Und er tobte so laut, dass in seinem Getöse alles andere unterging. Jeder Gedanke, jeder Handlungsspielraum. Jede Hoffnung.
    Und trotzdem schrie ich weiter.
    Einer der Sicherheitsmänner griff nach mir, und ich taumelte zurück. Ich blieb am Bettrahmen hängen und fiel auf den Hintern, wobei mir kurz der Mund zuklappte – doch die Verschnaufpause währte nur kurz. In meinem Kopf hallte der Schrei immer noch nach. Kaum eine Sekunde später brach er erneut los.
    Der Polizist sprang überrascht zurück und rief etwas in sein Funkgerät. Er wirkte völlig ratlos. Schockiert.
    Genauso wie ich.
    Jetzt war es Emma, die sich neben mich kniete. Sie hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu, die Handtasche achtlos auf dem Boden.
    „Kaylee!”, schrie sie, doch kein Laut drang aus ihrem Mund. Sie kramte das Handy aus der Tasche, und während sie wählte, verlor die Welt für mich plötzlich jegliche Farbe, wie in Der Zauberer von Oz , nur in umgekehrter Reihenfolge. Emma wurde grau. Die Polizisten wurden grau. Die Kunden wurden grau. Und mit einem Mal standen alle in einem wirbelnden, farblosen Nebel.
    Nur ich saß darin.
    Schreiend fuchtelte ich mit den Händen herum, versuchte, den Nebel anzufassen. Echter Nebel war kalt und feucht, aber dieser hier war irgendwie … substanzlos. Ich fühlte gar nichts. Und aufwirbeln ließ er sich auch nicht. Aber ich konnte ihn sehen. Und das, was darin lebte.
    Links von mir bewegte sich etwas. Besser gesagt, es schlängelte sich. Das Ding war zu dick und zu gerade für eine Schlange. Aber irgendwie wand es sich durch das Handtuchregal, ohne die Leute zu berühren, die sich erschrocken dagegen pressten und mich anstarrten.
    Anscheinend war mein Geschrei nicht so schlimm, dass sie dafür auf meinen Anblick verzichten und den Laden verlassen wollten.
    Rechts von mir huschte etwas über den Boden, dort, wo der Nebel am dichtesten war. Es steuerte direkt auf mich zu, und ich taumelte auf die Beine und zerrte Emma zur Seite. Die Polizisten sprangen erschrocken vor mir weg. Auch Emma riss sich los und starrte mich mit ängstlich aufgerissenen Augen an.
    In dem Moment gab ich auf. Ich ertrug es nicht länger, ich konnte nichts dagegen tun. Weder gegen das Geschrei noch den Schmerz noch die Blicke der Leute oder den Nebel und die unheimlichen Schatten. Am schlimmsten aber war, dass ich nichts gegen die Gewissheit tun konnte, dass dieses Kind – der Junge im Rollstuhl – sterben würde.
    Und zwar bald.
    Ich bemerkte noch, dass ich die Augen schloss. Alles ausblenden wollte.
    Ich tastete blind umher, verzweifelt bemüht, dem Nebel zu entkommen, den ich nicht fühlen konnte. Und nicht mehr sehen konnte. Meine Hand berührte etwas Weiches, Hohes. Etwas, das ich nicht mehr benennen konnte. Ich krabbelte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher