Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch

Titel: Katzentisch - Ondaatje, M: Katzentisch
Autoren: Michael Ondaatje
Vom Netzwerk:
betagten Passagier die Kunst demonstriere, einen Liegestuhl mit nur zwei Handgriffen aufzuklappen, hängt sich bei mir ein und nötigt mich, mit ihm zu gehen. »From Natchez to Mobile« , sagt er warnend, »from Memphis to Saint Joe …« Angesichts meiner Verwirrung verstummt er.
    Die Plötzlichkeit, mit der Mr. Mazappa auftaucht, trifft mich immer unvorbereitet. Ich habe im Schwimmbecken geplätschert, da ergreift er meinen glitschigen Arm und drückt mich an die Wand des Beckens, während er daneben kauert. »Pass auf, mein komischer Junge, women will sweet-talk, and give you the big eye … ich beschütze dich mit dem, was ich weiß.« Aber als Elfjähriger fühle ich mich nicht beschützt, ich fühle mich im vorhinein durch Möglichkeiten verwundet. Schlimmer, fast schon apokalyptisch ist es, wenn er zu uns dreien spricht. » When I came home from my last tour, I found a new mule kicking in my stable … Versteht ihr, was das heißt?« Nein, überhaupt nicht. Bis es uns erklärt wird. Aber meistens wendet er sich nur an mich, als wäre ich der eine Komische, den man beeindrucken kann. Damit hat er möglicherweise recht.
    Max Mazappa pflegte gegen Mittag aufzustehen und in der Delilah-Bar ein spätes Frühstück einzunehmen. »Zwei Eier im Nest und ein Nash-Soda, okay?« lautete seine Bestellung, und er kaute ein paar Cocktailkirschen, während er auf sein Essen wartete. Nach dem Frühstück ging er mit seiner Tasse Java zu dem Klavier im Tanzsaal und stellte die Kaffeetasse auf die rechten Tasten der Klaviatur. Und von den Klaviertönen animiert, vermittelte und erläuterte er dann jedem, der zufällig in der Nähe war, die wichtigen und schwierigen Einzelheiten des Lebens. Es konnte sich ebensogut darum handeln, wann ein Hut zu tragen war, wie um Rechtschreibung. »Englisch ist eine unmögliche Sprache. Unmöglich! Zum Beispiel ein Wort wie Egypt . Ein schwieriges Wort. Ich verrate dir einen Trick, mit dem du es immer richtig schreibst. Sag dir einfach: ›Ever Grasping Your Precious Tits‹ .« Diesen Satz habe ich tatsächlich nie vergessen. Selbst während ich diese Worte schreibe, zögere ich unmerklich, während ich die Wörter in Gedanken mit großen Anfangsbuchstaben versehe.
    Doch meistens schöpfte er aus seinem musikalischen Wissen, erklärte die Feinheiten des Dreivierteltakts oder rief sich einen Song in Erinnerung, den er von einer attraktiven Sopranistin hinter der Bühne gelernt hatte. Auf diese Weise wurden wir Ohrenzeugen eines seltsam atemlosen Lebenslaufs. »I took a trip on an train and I thought about you« , brummte er, und wir dachten, er spräche von seinem traurigen, liebeleeren Herzen. Aber heute weiß ich, dass Max Mazappa Harmonik und Melodik liebte, denn nicht alle Stationen seines Kreuzwegs handelten von unglücklicher Liebe.
    Er sei halb Sizilianer, halb sonstwas, erzählte er uns in seinem undefinierbaren Akzent. Er hatte in Europa gearbeitet, den amerikanischen Kontinent eine Weile bereist und sich in den Tropen wiedergefunden, wo er über einer Hafenbar wohnte. Er brachte uns den Refrain von »Hong Kong Blues« bei. Er konnte so viele Songs und Leben aus dem Hut zaubern, dass Dichtung und Wahrheit zu eng miteinander verquickt waren, als dass wir sie voneinander hätten unterscheiden können. Es war leicht, drei so ahnungslose und arglose Grünschnäbel an der Nase herumzuführen. Außerdem kamen in manchen der Songs, die Mr. Mazappa eines Nachmittags zu seiner Klavierbegleitung murmelte, während das ozeanische Sonnenlicht den Fußboden des Tanzsaals sprenkelte, Wörter vor, die wir nicht kannten.
    Bitch. Womb.
    Er unterhielt sich mit drei Jungen an der Schwelle zur Pubertät, und wahrscheinlich wusste er, welchen Eindruck er hinterließ. Aber er erzählte seinen jungen Zuhörern auch Geschichten von musikalischem Ehrgefühl; sein größtes Idol war Sidney Bechet, der bei einem Auftritt in Paris beschuldigt worden war, einen falschen Ton gespielt zu haben, und daraufhin den Ankläger zum Duell forderte, in dem darauffolgenden Tohuwabohu eine Passantin anschoss, eingekerkert und deportiert wurde. »Le Grand Bechet – Bash –, so nannte man ihn. Ihr Jungen werdet lange, lange leben müssen«, sagte Mazappa, »bevor ihr einer solchen Prinzipientreue begegnet.«
    Die gewaltigen und grenzenlosen Liebesdramen, die Mazappas Songs, seine Seufzer und seine Erzählungen schilderten, erstaunten und verstörten uns. Wir nahmen an, dass die schicksalhafte Wende in seiner Laufbahn auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher