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Katharsia (German Edition)

Katharsia (German Edition)

Titel: Katharsia (German Edition)
Autoren: Jürgen Magister
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die Stadt. Zufall oder Absicht? Kurze Passagen blitzten auf, die Sando nicht besser hätte spielen können, um gleich darauf in ungelenk verstolperten Intervallen zusammenzubrechen. Doch so oft die Musik erstarb, so oft zuckte sie wieder auf, erstand mühselig und qualvoll aus dem Nichts, stieg auf zu schrillen Höhen, wütend zirpend, unschön und beißend.
    Sando hielt es nicht mehr an seinem Fleck. Er wollte wissen, wer da spielte, wer das Stück bis zur Unkenntlichkeit zermalmte und dabei eine Musik erschuf, die ihn in all seinen Fasern berührte, weil sie seiner Seele zu entspringen schien.
    Sando lief in die Richtung, aus der die Töne kamen, abstürzend, ansteigend, ungeschickt übereinanderpurzelnd, verharrend. Sie führten ihn zurück in die Innenstadt. Vor ihm tauchte schwarz der Umriss eines Brückenbogens auf. Die Innenseite wurde schwach erhellt vom Widerschein eines Feuers. Irgendwo hinter der Brücke schien etwas zu brennen. Vielleicht ein Lagerfeuer, an dem sich Obdachlose wärmten? Nun war die Musik ganz nah. Als Sando den Bogen passiert hatte, sah er eine Traube von Menschen. Sie hielten brennende Fackeln in den Händen und scharten sich um jenes Klavier, das irgendjemand hatte zurücklassen müssen, weil der Wagen darunter zusammengebrochen war. Schon seit Tagen war Sando auf seinem Nachhauseweg daran vorbeigeschlichen, ohne je die Tasten zu berühren, obwohl es ihn in den Fingern gejuckt hatte. Wer dort spielte, war noch nicht auszumachen. Zu dicht umstanden die Zuhörer das Instrument. Sie lauschten ergriffen. Das Licht der Fackeln glänzte in ihren Augen. Sando ging auf sie zu. Einer sah ihn kommen, stieß seinen Nebenmann an. Sie traten zur Seite, scheu auf seine schwarze Motorradkombi schauend. „Wir sind keine Plünderer“, murmelte der eine und wies Sando zum Zeichen der Unschuld seine leeren Handflächen vor. „Wir haben das Klavier nur vom Wagen genommen, damit man darauf spielen kann“, beeilte sich der andere zu versichern.
    Nun wurden auch die Übrigen auf Sando aufmerksam. Augenblicklich wichen sie zurück. Eine Gasse tat sich auf, gab den Blick auf das Klavier frei. Jemand hatte eine Fackel daran befestigt, deren unstetes Licht auf eine unförmige Gestalt fiel, die, gehüllt in eine Wattejacke, auf einer kleinen Holzpritsche saß und mit steifen Fingern die Tastatur malträtierte. Sando sah nur den Rücken und das lange blonde Haar, das darüber fiel.
    Nein, das ist sie nicht , dachte der Junge, durch dessen Eingeweide es wie ein Blitz zuckte.
    Niemals würden Marias Hände so ungelenk über die Tasten irren wie die Hände dieser Frau vor ihm. Er hörte, wie sich die Motive seines Lieblingsstückes ineinander verhakten, strauchelten und zerschellten. Die Klavierspielerin richtete ein Chaos an. Klangsplitter flogen durch die Nacht. Krachend und klirrend beschworen sie in Sando die Erinnerung an die Apokalypse in der Festung Makala herauf. Die Welt um ihn schien erneut zu zerbersten, bestand nur noch aus Scherben und Blut. Er stand starr, sperrte Mund und Ohren auf. So konnte nur jemand spielen, der das Grauen kannte, jemand, der Wolfenhagens Siegesfeier miterlebt hatte. Maria! War sie es doch?
    Endlich ebbte das wütende Toben ab, endete in einem schluchzenden Klagelaut. Lange noch saß die Frau in sich gekrümmt, bis sie die Hände von den Tasten nahm und in den Schoß legte. Aus respektvoller Entfernung kam schüchternes Händeklatschen. Die Menschen mit den Fackeln waren immer noch da. Verstohlen beobachteten sie Sando, der wie angenagelt auf seinem Fleck verharrte, unentschlossen, ob er die plumpe Gestalt am Klavier ansprechen sollte. Zu groß war seine Furcht, enttäuscht zu werden.
    Als er schließlich doch einen Schritt in ihre Richtung wagte, kam ein Warnlaut von der Gruppe der Zuhörer. Erschrocken verhielt Sando seinen Schritt und bemerkte den leichten Ruck, der durch den wattierten Rücken ging. Langsam wandte sich die Frau um und sah Sando unverwandt ins Gesicht. Seine Knie wurden weich, als er Maria sagen hörte: „Sando?“
    ,Ja, ich bin es!‘, wollte er antworten, doch seiner Kehle entwich nur ein unartikuliertes Krächzen. Aus ihrem Mund seinen Namen zu hören, das hatte er kaum noch zu hoffen gewagt.
    Maria schaute ihn an wie eine Erscheinung.
    „Wo kommst du her? Ich habe dich gesucht in dieser seltsamen Welt.“
    Sando bekam eine Gänsehaut. Ihre Begegnungen in Makala schienen aus ihrer Erinnerung gelöscht zu sein.
    „Ich war immer in deiner Nähe,
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