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Katharsia (German Edition)

Katharsia (German Edition)

Titel: Katharsia (German Edition)
Autoren: Jürgen Magister
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an die Festung und an das mörderische Bankett. Welch ein Glück für Maria!
    Auch er hätte gern ein paar Schreckensbilder aus seinem Gedächtnis gelöscht.
    Er hörte Maria herzhaft lachen. Ein ansteckendes Lachen. Er stimmte mit ein.
    Die Menschen, die das Klavier noch immer in weitem Kreis umstanden, atmeten auf. Die Gesichter im Fackelschein entspannten sich, doch niemand wagte es, den respektvollen Abstand aufzugeben und näherzutreten. Sie trauten dem Frieden nicht, beobachteten argwöhnisch den Burschen mit dem Schlangenzeichen auf der Lederkluft, dessen Lachen für ihr Empfinden allzu schnell versiegte.
    „Wie ist es dir ergangen ohne mich?“, wollte Maria wissen.
    Sando seufzte. „Ich werde dir alles erzählen“, versprach er – und leise setzte er hinzu: „Aber bitte, gib mir Zeit.“
    Maria horchte auf. Der Schmerz, der in seiner Stimme lag, war ihr nicht entgangen. Tief in seinen Augen sah sie nun das Grauen. Es hatte sich dort eingenistet wie ein böser Pilz, der sich immer weiter fraß.
    „Gut. Lass dir Zeit, Sando! Wir haben uns ja jetzt gefunden.“
    Er schwieg und sah sie dankbar an. Sie saßen beieinander, ihre Hand in der seinen. Die Fackel, die am Klavier steckte, brannte langsam nieder. Ihr warmer Schein ließ die Schatten über ihre Gesichter hüpfen. Sando konnte sich nicht sattsehen an Maria, deren Züge im Schwarz versanken, um sofort wieder hell ins Licht zu treten, lebendig und geheimnisvoll. Maria! Immer wieder sagte Sando in Gedanken diesen Namen, bis er ihn unversehens laut aussprach und die Stille störte.
    „Ja?“ Sie sah ihn fragend an.
    „Ich habe hier etwas für dich“, rettete sich Sando.
    Er zog den Reißverschluss seiner Jacke auf und holte das Medaillon hervor.
    Maria schaute auf den Schmuck wie auf ein Wunder. „Die Madonna!“
    „Sie hat mich immer an dich erinnert.“
    Er trat hinter sie, legte ihr die Kette um den Hals. Doch er bekam den winzigen Verschluss nicht zusammen wegen der zunehmenden Nässe in seinen Augen. Marias Hände kamen ihm zu Hilfe und er wendete sich rasch dem Klavier zu, um seine Tränen vor ihr zu verbergen.
    „Ja, Sando, spiel!“, hörte er sie sagen.
    Zaghaft strich er über die Tasten, nahm Witterung auf. Wie würde das Instrument reagieren? Das Klavier war verstimmt, der Anschlag schwammig. Er nahm seinen Mut zusammen, wagte die ersten Töne seines Lieblingsstückes. Seine Finger waren ungelenk. Er hatte lange nicht gespielt. Dazu die Kälte des Herbstabends. Mehr schlecht als recht wurstelte er sich durch.
    „Es ist schön, Sando, weiter!“
    Maria lehnte sich an ihn. Wohlige Wärme durchströmte seinen Körper. Längst waren seine Tränen getrocknet, als er sich dem Ende des ersten Satzes, einer abfallenden Tonkaskade, näherte. Er verhunzte sie grandios.
    Als wäre sie beleidigt, hauchte die Fackel ihr Leben aus. Doch er spielte weiter, fand die Tasten auch ohne Licht.
    „Kommst du mit mir nach New York?“, fragte er bei einer leisen Stelle im zweiten Satz.
    „Du willst nach New York?“
    „Ja. Ich werde dort erwartet.“
    Maria lauschte einem Ton nach, der besonders verstimmt war, verzog aber keine Miene.
    „Ein Mädchen?“
    „Nein, der Präsident.“
    „Angeber!“
    Sie glaubte ihm nicht. Als wollte sie ihn herausfordern, griff sie in die Tasten, ließ die Finger auf dem Instrument tanzen.
    „Was soll ich in New York? Ich bleibe hier!“
    „Das lasse ich nicht zu“, erwiderte Sando und zog unvermittelt das Tempo an.
    Sie hielt mit und es entspann sich eine Rangelei, während der sie sich Töne, Motivfetzen und Rhythmen um die Ohren schlugen. Ratlos lauschten die fackeltragenden Gestalten aus sicherer Entfernung dem lärmenden Spektakel, in den Gesichtern die bange Frage, ob aus diesen Missklängen eine Gefahr für sie und die Klavierspielerin erwachsen könnte. Maria und Sando bemerkten nichts davon.
    Auf dem Höhepunkt ihrer wilden Klangschlacht rief Maria: „Wie kommst du eigentlich dazu, über mich bestimmen zu wollen?“ Daraufhin herrschte Stille. Beide hatten sie die Finger von den Tasten genommen. Maria, weil sie auf Antwort wartete, und Sando, weil er das, was er nun zu sagen hatte, in Ruhe vorbringen wollte.
    „Weil ich meinen Eltern versprochen habe, auf dich aufzupassen. Schon vergessen?“
    Marias Augen leuchteten im schwachen Widerschein des Fackelkreises.
    „Dann muss ich mich wohl in mein Schicksal fügen …“
    Sando freute sich wie ein Schneekönig. Er begann wieder zu spielen. Maria fiel mit ein.
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