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Katharsia (German Edition)

Katharsia (German Edition)

Titel: Katharsia (German Edition)
Autoren: Jürgen Magister
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gerichtet. Mit dem verständnisinnigen Lächeln einer Liebenden schaute sie ihn an, das Kind auf dem Arm, und ihr Blick traf ihn im Innersten.
    Maria!
    Er schloss die Augen, krallte sich an der Leiter fest, um nicht abzurutschen. Ein Gefühl der Freude und Dankbarkeit durchströmte ihn, weil er das Bildnis unversehrt vorgefunden hatte. Doch gleichzeitig war er auch traurig, denn die Madonna auf der Leinwand ersetzte nicht die Maria aus Fleisch und Blut, nach der er bisher vergeblich gesucht hatte. Alles, was er wusste, war, dass sie nach Hause wollte. Doch weder in der Oase am Rande von Makala, dem grünen Paradies des ermordeten Jamal al Din, hatte er sie angetroffen noch hier in Dresden, das nur mit seinem Altstadtkern der irdischen Stadt ähnelte, in der er aufgewachsen war. Als er hier ankam, hatte er sich nicht zurechtgefunden. Die Straßenzüge verliefen anders, als er es kannte. Die Zerstörung, die die abstürzenden Gleiter angerichtet hatten, erschwerte ihm die Orientierung zusätzlich. Sein Versuch, bei den Behörden etwas über Maria zu erfahren, war am Durcheinander gescheitert, das in den teils verwüsteten Büros herrschte. Auf die Frage nach seiner Identität hatte er einen falschen Namen angegeben, um sich nicht als Auvisor zu erkennen zu geben. Er hatte behauptet, sein Pass wäre verbrannt, was ihm die Beamten bei den herrschenden Zuständen ohne Weiteres geglaubt hatten. Einziges, aber nicht unwichtiges Ergebnis seines Behördenganges war ein Zimmer, das man ihm im Souterrain einer leidlich erhaltenen Villa zugewiesen hatte. Dabei war er nur knapp der Zuweisung einer Pflegemutter entgangen, indem er steif und fest behauptet hatte, siebzehn zu sein.
    Sein erster eigener Unterschlupf war nicht groß und wegen der kleinen Fenster ziemlich finster, aber gut gelegen in der Nähe des Flusses. Von hier aus war er tagelang durch die Stadt gestreift auf der Suche nach Maria. Die katharsische Variante seiner Vaterstadt erwies sich für ihn als eine unbekannte Welt. Sie bedrückte ihn in ihrer Fremdheit. Schließlich hatte er sich entschlossen, nur noch Orte aufzusuchen, die er vom irdischen Dresden her kannte: die breiten Wiesen, die den Fluss säumten und den alten Stadtkern mit der in Trümmern liegenden Galerie. Sollte Maria ihn suchen, würde sie es ebenso halten, hoffte er. Bisher aber wartete er vergeblich. Und mit jedem Tag, der verstrich, ohne dass sie erschien, verfestigte sich in ihm ein beunruhigender Gedanke: Vielleicht fühlte sich Maria zu Hause in der Heimat jener Frau, die sich in ihr Inneres gedrängt hatte und Callista hieß. Wo immer das sein mochte, er hatte den Ort ihrer Herkunft nicht in Erfahrung bringen können. Sollte Maria dort sein, so würde er sie wohl nie wiedersehen. Auch jetzt, auf der Leiter im Angesicht der Madonna, fraß dieser Gedanke in ihm. Und selbst das Lächeln, das sie ihm schenkte, konnte ihn nicht trösten.
    „Feierabend!“, hörte er den Vorarbeiter schreien.
    Sando warf noch einen forschenden Blick auf sie, die in ihrer abgeklärten Ruhe zu wissen schien, wo Maria steckte.
    Verrate es mir , dachte er.
    Auf einen weiteren Ruf des Vorarbeiters hin knipste er widerstrebend die Lampe aus, stieg hinab und folgte den Männern zu einer Feldküche, die in der Nähe dampfte. Dort stellte er sich an, um sich den Schlag Suppe zu holen, der jedem Trümmerarbeiter kostenlos zustand. Als er den heißen Napf in den Händen hielt, setzte er sich zu den anderen auf einen Balken, den man quer über zwei Stapel geputzter Ziegel gelegt hatte. „Donnerbalken“ hatte ihn Sando für sich getauft. Dort saßen sie wie die Hühner auf der Stange, löffelten die von Fettaugen triefende Brühe, froh, nach einem harten Tag etwas in den Magen zu bekommen.
    Nachdem Sando den Napf geleert hatte, machte er sich auf den Nachhauseweg. Er führte ihn hinunter zu den breiten Uferwiesen des Flusses. Hier fiel ihm das Atmen leichter als im Staub der Ruinen. Im Wasser vertäut lagen Raddampfer, die weder vor noch zurück konnten, weil oberhalb und unterhalb ihres Ankerplatzes die Trümmer eingestürzter Brücken die Fahrrinne blockierten. Bunte Wimpelketten, die sich vom Bug bis zum Heck der weißen Schiffe spannten, ließen erahnen, dass die Katastrophe die Stadt an einem unbeschwerten Sommertag ereilt hatte.
    Sando passierte auf dem Uferweg mehrere Brücken, zerstörte und unversehrte. Dabei traf er immer wieder auf Menschen, die in Gruppen oder einzeln auf der Suche nach einem Obdach dahinzogen,
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