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Kapitalismus Forever

Kapitalismus Forever

Titel: Kapitalismus Forever
Autoren: W Pohrt
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Volksgemeinschaft sein. »Gemeinnutz vor Eigennutz«, die alte Naziparole – das ist es manchmal, was die Leute bei der Marx-Lektüre zu begreifen meinen.
    Auch wenn die Kulturbranche aus nacktem Geschäftsinteresse das Gegenteil glauben muss: Die Menschen werden durch Bücher weder klüger noch dümmer, und das gilt für die heutigen Massenmedien auch, überhaupt gilt das für die ganze Bildung. Im ersten Weltkrieg hatten viele der Abiturienten, die sich als Freiwillige an die Front meldeten, ihren Hölderlin im Tornister. Wurde die Massenabschlachterei davon besser? Oder nehmen wir die Nazis: Wenn die Deutschen damals Analphabeten gewesen wären, hätten Plakate wie »Kauft nicht bei Juden« keine Chance gehabt, und Der Stürmer hätte nicht erscheinen können.
    Man kann es auch grundsätzlicher fassen: Kein Mensch kommt so dumm auf die Welt, wie er später wird. Um Bild -Leser zu werden, muss er erst mal das Alphabet lernen. Und es ist ziemlich schwierig, eine 50-Millionen-Bevölkerung zu beherrschen, wenn die Leute nicht mal einen Strafzettel lesen können.
    Jedes Buch ist ein toter Gegenstand. Es kann nur wirken, wenn ein Mensch danach greift und es aus dem Regal zieht. Was es dann, wenn danach gegriffen wird, bewirkt, hängt davon ab, wer es liest, und unter welchen Umständen er es liest. Die historische Erfahrung wie die Lebenserfahrung lehren: Wenn der Marxismus in Mode kommt, ist das ein Symptom der Flaute.
    Das war schon immer so, angefangen mit Marx selbst. Sein »Kommunistisches Manifest« – ein großartiger Text – ist 1848 in London erschienen. Es spricht aus ihm die Erwartung, die Revolution stünde unmittelbar bevor. Aber daraus wurde nichts. Nichts passierte. Und deshalb, weil die Revolution endlos auf sich warten ließ, hatte Marx zwanzig Jahre Zeit, sich den ersten Band vom »Kapital« abzuquälen. Der erschien 1867.
    Wenn man das Werk gründlich studiert – viele derer, die es zur Lektüre empfehlen, haben das nicht getan – wird man feststellen, dass es nicht unbedingt den revolutionären Tatendrang anstachelt oder weckt. Im Gegenteil: Je mehr man sich hineinvertieft, je besser man versteht, wie raffiniert dieser Kapitalismus funktioniert, desto weniger kann man irgendjemandem noch richtig böse sein, denn auch die Kapitalisten sind keine garstigen Raffzähne, sondern nur Marionetten an Strippen, die das Wertgesetz zieht. Im Maße, wie man sich bei der Lektüre dazu verführen lässt, in die Rolle eines allwissenden Gottes hineinzuschlüpfen, macht man Bekanntschaft mit der Tatsache, dass »alles verstehen« auch »alles verzeihen« heißt.
    Schon Marx‘ Hauptwerk verdanken wir also der Tatsache, dass es, anders als erhofft, zum Kapitalismus keine Alternative gab. Andernfalls wäre Marx wohl Revolutionär geworden. Und Revolutionäre haben andere Sorgen, als furchtbar dicke Bücher zu schreiben oder auch nur zu lesen.

Linke sind heute Zankhähne in Filzpantoffeln
    Wir, die Alten, die vor 40 oder 50 Jahren jung gewesen sind, kennen das aus unserer eigenen Geschichte. Der lange Marsch durch die vielen dicken blauen Bände begann, als wir auf der Straße nichts mehr zu tun hatten. Die große Viet­nam-Demo in Berlin im Februar 1968 war der Kulminationspunkt der Protestbewegung und da­mit ihr natürliches Ende gewesen. Das Erreichbare war erreicht, die Bewegung konnte nicht mehr wachsen, und wenn eine Bewegung nicht mehr wächst, wenn sie sich nicht mehr bewegt, wenn sie stagniert, zerfällt sie.
    Was sie zuvor zusammengehalten hatte, war ein Lebensgefühl, das ich selbst nicht mehr in meinem Kopf, sondern nur noch in meinen Notizen wiederfinde. Ich zitiere daraus:
    »Die Studentenrevolte als eine nichtproletarische und sich dennoch um sozialistische Inhalte organisierende Massenbewegung zeigt exemplarisch, dass der Kapitalismus eine Entwicklungsstufe erreicht hat, auf welcher er gene­rell – fast unabhängig von der Klassenzugehörigkeit – unerträglich geworden ist.
    Wie sich die Chancen dafür, dass die objektive Unerträglichkeit der Erfahrung eines Menschen kommensurabel und damit für die Entwicklung seiner Lebensgeschichte bestimmend werde, nach Klassenzugehörigkeiten verteilen, ist keineswegs schon ausgemacht. Weder besteht eine Garantie dafür, daß diese Erfahrung einem Arbeiter in den Schoß fällt, noch dafür, dass sie einem Kleinbürger ewig verschlossen bleibt.
    Darüber zu sprechen ist schwer geworden, weil die Wörter ihre Bedeutung verloren. Habermas, dessen
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